V. Der Monat Elul wird durch das grundlegende Akronym „Elul“ charakterisiert: „Ani Ledodi Wedodi Li (Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter ist mein)“1 Es gibt jedoch auch andere, spezifischere Akronyme (die sich auf bestimmte Aspekte des „Ani Ledodi ...“ beziehen). Im Allgemeinen lassen sich diese in drei Bereiche unterteilen, die den drei Dimensionen Tora, Awoda und Gemilut Chassadim (Ausüben von liebender Güte und Wohltaten durch Wort und Tat) entsprechen:2
a) „Ina Lejado Wesamti Lecha – Er ließ es ihm widerfahren, und ich werde dir einen Ort einrichten.“ Dies bezieht sich auf die Dimension der Tora, denn das Tora-Studium ist ein schützender Zufluchtsort.
b) „Isch Lere-ehu uMatanot La-ewjonim – Einer für seinen Gefährten, und Geschenke für die Armen.“ Dies bezieht sich auf die Dimension von Gemilut Chassadim (Zedaka).
c) „Et Lewawcha We-et Lewaw [Sarecha] – Dein Herz und das Herz [deiner Nachkommen].“ Dies bezieht sich auf die Dimension der Awoda, dem Dienst an G-tt (Gebet und das Prinzip von Teschuwa im Allgemeinen), da der Vers fortfährt „Le-ahawa (den Ewigen zu lieben) ...“; denn, wie im Kuntres haAwoda3 erklärt wird, ist die wesentliche Awoda des Gebets (nicht im Modus von Jira – Furcht, sondern) im Modus von Ahawa (Liebe).4
Die Aspekte von Tora und Awoda wurden bereits an anderer Stelle erörtert. Was den Aspekt von Zedaka betrifft, so scheint etwas seltsam zu sein: Das Akronym für diesen Aspekt lautet „Isch Lere-ehu uMatanot La-ewjonim.“ Die ersten beiden Wörter beziehen sich jedoch auf „Mischloach Manot – Portionen [von Lebensmitteln], die einander geschickt werden“, und nicht auf Zedaka! Außerdem wird das Akronym durch die letzten vier Worte des Verses gebildet – „Isch Lere-ehu ...“ – und enthält nicht die früheren Worte Mischloach Manot!
Der Ausdruck, der im Wortlaut des Akronyms verwendet wird, lautet „Geschenke für Ewjonim.“ Die beiden hebräischen Wörter für arme Menschen, Anijim und Ewjonim, haben unterschiedliche Bedeutungen. Anijim sind diejenigen, die weder reich noch mittelmäßig begütert sind, aber dennoch etwas haben. Ewjonim haben gar nichts, wie Raschi erklärt:5 „[Der Ewjon ist mittelloser als der Ani ...;] der Begriff Ewjon bezeichnet jemanden, der sich nach allem sehnt“ – nach allem, egal wie wenig, denn er hat nichts.6
Das Konzept „Sehnsucht nach allem“ schließt auch das andere Extrem ein, nämlich die Sehnsucht nach etwas Wertvollem, an das man vielleicht von einem ursprünglichen Lebensstil her gewöhnt ist, wie z. B. ein Pferd zum Reiten usw.: Da er sich danach sehnt und mangels dessen nicht die Seelenruhe hat, seine Lebensaufgabe zu erfüllen, müssen wir es ihm zukommen lassen.7
Der Spender mag sich selbst als wohlhabend betrachten, und wenn er etwas Großes oder Kleines für den mittellosen Ewjon spendet, mag er denken, dass er von seinem eigenen Besitz gibt. Unser Vers stellt daher den „Geschenken für die Armen“ die Worte „Isch Lere-ehu – (wörtlich:) einer für seinen Gefährten“ voran! Mit anderen Worten, die „Geschenke für die Armen“ werden „einem seiner Gefährten“ gegeben, einem Gleichrangigen, einem, der sich in demselben Zustand befindet wie er selbst. Es geht nicht darum, dass einer vom anderen abhängig ist, denn der Spender gibt nicht das Seine, sondern er gibt das zurück, was er treuhänderisch verwaltet hat.8 Die Chassidim früherer Zeiten, in den Tagen des Alten Rebben, hatten daher einen bekannten Spruch: „Das Stück Brot, das ich habe, ist deines, wie es meines ist“, und sie sagten das Wort „deines“ zuerst – „deines, wie es meines ist.“9 Dies stimmt mit dem Spruch unserer Weisen überein, dass der Arme mehr für den Hausherrn tut, als dieser für ihn tut;10 und wie es heißt: „Du hast das Leben des Armen erhalten ... ein anderes Mal kann dein Sohn oder deine Tochter [krank werden ...] ... und Ich werde sie retten.“11
VI. Der Mensch hat sowohl einen Körper als auch eine Seele. Das Konzept von Zedaka bezieht sich daher auch auf die geistige Ebene.12
Das Gesetz schreibt für die materielle Zedaka vor, dass auch die Armen Zedaka geben müssen.13 Dasselbe gilt für die geistige Zedaka: Jeder, auch der geistig Arme, ist verpflichtet zu geben, denn jeder hat etwas beizutragen. Allein die Tatsache, dass man einem anderen Menschen begegnet, ist ein Himmlisches Zeichen dafür, dass man ihm helfen und etwas geben muss. Schließlich geschieht alles durch Haschgacha Pratit (G-ttliche Vorsehung, die sich auf alle Einzelheiten im Universum erstreckt, von den größten und erhabensten Details bis hin zu den kleinsten und scheinbar unbedeutendsten), und „Der Heilige, gesegnet sei Er, hat nichts umsonst erschaffen.“14 Die Begegnung mit einem anderen dient also zweifellos dem Zweck, ihm etwas anzubieten.15
So wie man bei der materiellen Zedaka dem anderen nicht wirklich etwas gibt, sondern selbst davon profitiert, so ist es auch auf der spirituellen Ebene: Indem man dem anderen etwas gibt, erhält man wirklich etwas von ihm, denn die endgültige Ganzheit wird gerade dadurch erreicht, dass man den „Kopf“ mit dem „Fuß“ verbindet (wie oben erläutert).16
VII. Der Rebbe „Zemach Zedek“ sprach einmal über die besondere Tugend der Zedaka, das unermessliche Verdienst, einem anderen in Angelegenheiten des Lebensunterhalts zu helfen, und wie dies zur Awoda beiträgt, den Geist und das Herz für Himmlische Manifestationen zu öffnen. Er erzählte seinem Sohn, dem Rebben Maharasch, von einer persönlichen Erfahrung:17
Als ich von Dobramysl nach Lubawitsch reiste, war ich in einer außerordentlich guten Stimmung aufgrund der innigen Nähe, die mir mein Großvater (der Alte Rebbe) entgegengebracht hatte. Ich hoffte, dass ich in Lubawitsch meinen Großvater mit einem strahlenden Gesicht wiedersehen würde.18 Zu dieser Zeit hatte ich eine Reihe von Fragen zu Themen von Nigle und Chassidut, und ich bereitete sie in meinem Geist in geordneter Weise vor.
Als ich in Lubawitsch ankam, ging ich sofort zu dem Ort, an dem die Synagoge gestanden hatte, in der mein Großvater [der Alte Rebbe in seiner Jugend] studiert hatte. Das Gelände war wegen eines Brandes zu einer Ruine geworden.19
Mein Schwiegervater, der Mittlere Rebbe, sagte über diesen Ort, dass der Alte Rebbe 57 Jahre zuvor20 Lubawitsch zu einem Ort gemacht hatte, der für die Führung der Chabad Chassidim geeignet war, damit sie lange und dauerhaft bis zum Kommen unseres gerechten Maschiach existieren konnten.
Nach meiner Ankunft in Lubawitsch blieb mir der [Alte] Rebbe jedoch verborgen, was mir großen Kummer und ein Gefühl der persönlichen Niedergeschlagenheit bereitete. Ich fühlte, dass ich, der Himmel behüte, „von einem hohen Dach in eine tiefe Grube“ gefallen war. Ich hatte mich auf eine intime Nähe eingestellt, erlebte aber eine große Distanz. Ich war sehr beunruhigt und untersuchte sorgfältig mein Verhalten, um herauszufinden, was diese Distanzierung verursacht haben könnte, damit ich sie korrigieren und es verdienen könnte, das heilige Antlitz meines Großvaters zu sehen und von ihm Lehren in Tora und Awoda zu hören.“
Der Rebbe „Zemach Zedek“ fuhr fort, dass er am Mittwoch, dem 20. Elul, in die Synagoge ging, um zu beten. Auf dem Weg dorthin traf er einen Einwohner von Lubawitsch namens Pinchas, der ihn um ein Darlehen von drei Rubel bat, damit er auf dem Markt ein paar Geschäfte machen und etwas Geld für die Ausgaben des kommenden Schabbat verdienen könne. Der Zemach Zedek sagte ihm, er solle nach dem Gebet in sein Haus kommen, und er würde ihm dann das Geld geben.
Als der Zemach Zedek sich auf das Gebet vorbereitete und den Tallit (Gebetsschal) auf seine Schulter legte, erinnerte er sich plötzlich daran, dass Reb Pinchas ihm gesagt hatte, dass heute ein Markttag sei und der Markt früh öffne. Pinchas würde das Geld also sofort brauchen. Der Zemach Zedek nahm also den Tallit ab, eilte nach Hause und nahm fünf Silberrubel mit, die er Reb Pinchas überreichte, damit er etwas Handel treiben und etwas Geld verdienen konnte.
Als der Zemach Zedek in die Synagoge zurückkehrte und am Waschbecken stand, um sich vor dem Gebet die Hände zu waschen, erschien ihm der Alte Rebbe mit seinem heiligen Antlitz und löste für ihn alle seine Fragen.21
VIII. Die Lektion dieser Geschichte ist, dass der Akt der Zedaka auch spirituelle Auswirkungen hat.22 Der Zemach Zedek hatte viele Errungenschaften, und er verdiente viele Ausdrucksformen der Nähe seitens des Alten Rebben, besonders als er zum Zeitpunkt seines Ablebens ganz allein bei ihm war.23
(Der Mittlere Rebbe war zu dieser Zeit in Krementschuk. Was seine Brüder betrifft, so ging es R. Chajim Awraham24 nicht gut, und R. Mosche25 befand sich auf der anderen Seite der Kriegsfront und konnte daher nicht kommen.)
Außerdem hatte der Zemach Zedek alle möglichen Anstrengungen unternommen, um den Alten Rebben zu sehen, doch all das war vergeblich.
Das änderte sich jedoch, als er einen Juden auf der Straße traf. Er traf ihn nicht einmal in seinem eigenen Wirkungskreis (d. h., dass der Mann zu ihm kam), sondern im Wirkungskreis von Reb Pinchas; er traf ihn auch nicht, als dieser Tehillim rezitierte oder Ähnliches, sondern als er sich um einen Kredit bemühte, um Geld zu verdienen. Der Zemach Zedek verschob daraufhin seine Gebete, und wir sprechen hier von der Art des Gebets des Zemach Zedek. Tefilla (Gebet) ist eine Zeit der ausgedehnten Erleuchtung von Mochin oben wie unten;26 und, wie im [Tanja] erklärt, Tefilla hat einen Vorteil gegenüber der Tora, da sie eine Veränderung in der physischen Realität bewirken kann – Heilung für die Kranken und materiellen Wohlstand.27 Nichtsdestotrotz stellte der Zemach Zedek all dies beiseite, um einem Juden einen materiellen Gefallen zu erweisen, und dadurch verdiente er es, den Alten Rebben zu sehen.
IX. Praktisch gesprochen: Einige der hier Anwesenden haben die beiden Eigenschaften, (a) etwas zu haben, was sie anderen geben können, und (b) tatkräftig zu sein. Daher sollten diese Personen an Rosch haSchana die Synagogen besuchen, um die Menschen zu motivieren.
Rosch haSchana besteht aus zwei Tagen, von denen jeder seinen eigenen Vorteil hat. Der erste Tag ist ein Tag des strengen Urteils, der zweite ein Tag des milden Urteils.28 Außerdem ist der erste Tag durch biblisches Gebot und der zweite durch rabbinisches Dekret vorgeschrieben.29 Obwohl „die Aussagen der Schriftgelehrten strenger sind“30, hat jeder Tag einen Vorteil gegenüber dem anderen, und sie ergänzen sich so, dass sie wie „ein einziger ausgedehnter Tag“ werden.31 Die Synagogen sollten daher an beiden Tagen besucht werden.
Nun mag mancher einwenden: „Meine persönliche Bestandsaufnahme des gesamten vergangenen Jahres ist so komplex, dass ich nicht in der Lage bin, festzustellen, was im Jezer Tow und was im Jezer haRa wurzelt, und nun habe ich 40 Tage einer verheißungsvollen Zeit, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Wie kann ich es mir dann leisten, von dieser Zeit etwas zu geben?“ So wird ihm gesagt, dass die „Geschenke für die Armen“ gegeben werden von „einem zu seinem Gefährten.“ Wenn er andere beschenkt, wird er sich selbst verbessern und bereichern.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am Schabbat Paraschat Nizawim 5710)
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