I. „Beachtet also Meine Vorschriften“1 Die Gemara interpretiert diesen Vers so: „Stellt eine Wache für die Bewachung Meiner Vorschriften auf.“2 Dies ist die Quelle für die Vorsichtsmaßnahmen, die von den Weisen eingeführt wurden.3 Es ist auch die Quelle für die Vorsichtsmaßnahmen, die jeder einzelne Jude auf sich nehmen muss, um zu vermeiden, dass er gegen Verbote verstößt.4 Diese Maßnahmen betreffen sogar Dinge, die gesetzlich erlaubt sind.5
In Texten, die sich mit Mussar (ethischem Verhalten) befassen, heißt es daher, dass man in hundert Bereichen des Erlaubten restriktive Maßnahmen ergreift, um nicht die Grenzen eines einzigen Bereichs des Verbotenen zu überschreiten.
II. Es gibt einige, die fälschlicherweise argumentieren: „Warum nach neuen Verboten suchen? Wenn es von unseren Rabbinern, gleich welcher Generation, verboten wurde, haben wir keine andere Wahl, als uns daran zu halten, denn die Schrift sagt: ‚Du sollst dich nicht von dem Wort abwenden, das sie dir sagen werden ...‘6 Doch selbst in solchen Fällen braucht man nicht übermäßig vorsichtig zu sein, denn es handelt sich lediglich um rabbinische Dekrete. Es ist jedoch völlig unnötig, nach neuen strengeren Vorschriften zu suchen. ‚Genug für euch mit dem, was euch die Tora verboten hat!‘“7
Sie bekräftigen ihr Argument, indem sie sich auf eine Stelle im Jeruschalmi beziehen, wo es heißt, dass der Mensch für alles, was er gesehen und nicht verzehrt hat, zur Rechenschaft gezogen wird.8
Außerdem sei es bereits schwierig, alles zu befolgen, was vorgeschrieben ist. Es lohne sich daher nicht, noch mehr Strenge oder Eifer hinzuzufügen, denn dies könne zur Vernachlässigung wesentlicher Anforderungen führen. Zu viele Einschränkungen könnten dazu führen, dass man völlig vom Weg der Tora abweicht, G-tt bewahre. Sie untermauern dieses Argument, indem sie auf die Sünde des Baumes der Erkenntnis verweisen, der die Wurzel und die Quelle aller Sünden9 ist: Diese Sünde kam dadurch zustande, dass dem G-ttlichen Gebot „Du sollst nicht davon essen“10 die zusätzliche Einschränkung „Ihr sollt ihn nicht berühren“11 hinzugefügt wurde.
III. Dieses ganze Argument ist jedoch aus folgenden Gründen völlig unzutreffend:
Alle Verpflichtungen der Tora sind von ein und demselben Hirten gegeben worden.12 Durch das Verbot „Du sollst dich nicht abwenden ...“ nehmen auch die Erlasse der Rabbiner die volle Kraft und Strenge von Gesetzen der Tora selbst an.13 Auf der praktischen Ebene unterscheiden wir zwar zwischen biblischen (deOrajta) und rabbinischen (deRabbanan) Geboten.14 Diese rechtlichen Unterscheidungen beruhen jedoch selbst auf der von der Tora aufgestellten Prämisse, dass wir uns im Falle eines Zweifels bezüglich eines biblischen Gesetzes auf die Seite der strengen Auffassung stellen, während wir uns im Falle eines Zweifels bezüglich eines rabbinischen Gesetzes auf die Seite der milden Auffassung stellen und so weiter.15
Das Gleiche gilt für die Verpflichtung, die jedem obliegt, sich selbst Beschränkungen in Bezug auf die erlaubten Dinge aufzuerlegen. Dies ist selbst ein Gebot der Tora, denn es steht geschrieben: „Beachtet also Meine Vorschriften (d. h., stellt eine Wache für die Bewachung Meiner Vorschriften auf).“
In der Tora heißt es: „Ihr sollt heilig sein ...“16 und „Ihr sollt euch heiligen"17 – d. h., „Heiligt euch in dem, was euch erlaubt ist.“18 Diese Anweisung ist nicht nur ein Gebot an sich,19 sondern sie ist auch Teil des Gebots „Beachtet also Meine Vorschriften ... – stellt eine Wache für die Bewachung Meiner Vorschriften auf.“20
IV. Was die Verweise auf den Jeruschalmi und die Sünde des Baumes der Erkenntnis betrifft, die oben angeführt wurden, so beziehen sich diese ganz offensichtlich nicht auf unseren Kontext:
Adam war, als er sich in Gan Eden (Garten Eden) aufhielt, „ein Wagen für das G-ttliche.“21 Er hatte keinerlei Verbindung zum Bösen.22 Dies zeigt sich deutlich in der Tatsache, dass er sich in Gan Eden aufhielt, einem Ort, der keine Form des Bösen duldet.23 Deshalb konnte er nicht in Gan Eden bleiben, nachdem die Sünde begangen worden war.24
Ein Wagen handelt nicht aus eigenem Antrieb. Er ist dem Willen des Wagenlenkers völlig unterworfen.25 In einem solchen Zustand bedarf es keiner Zäune oder Vorsichtsmaßnahmen, denn es gibt keine Angst, vom Weg abzukommen. Vorsichtsmaßnahmen sind unter solchen Umständen überflüssig. Vielmehr würden sie einen Defekt darstellen. Denn wenn jemand ein Wagen für die G-ttlichkeit ist, spiegeln er und alle seine Handlungen die Heiligkeit wider. Er verfeinert alles, womit er sich befasst. Sich von irgendetwas zurückzuziehen, hieße daher, ihm seine Verfeinerung vorzuenthalten, wie zum Beispiel in den Fällen, in denen man Opfer verzehrt, am Schabbat isst und so weiter.26
Unter anderen Bedingungen jedoch, unter denen Vorsichtsmaßnahmen erforderlich sind, sind sie eine Tugend.27
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am Schabbat Paraschat Schlach 5716)
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