V. „Ich bin wie ein Mann von siebzig Jahren.“1
Die Gemara2 erklärt den Ausdruck „wie ein Mann von siebzig Jahren“: R. Elasar ben Asarja war in Wirklichkeit viel jünger, aber achtzehn Reihen seines Haares wurden weiß, und er sah aus wie ein alter Mann.3 Deshalb heißt es „wie ein Mann von siebzig Jahren“, d. h. eine bloße Analogie.
Diese Auslegung macht jedoch die Fortsetzung – „und doch gelang es mir nicht, zu beweisen ...“ – schwer verständlich. Der einfache Sinn dieser Worte legt nahe, dass das Paradoxon von „und doch gelang es mir nicht“ nicht nur im Hinblick auf R. Elasars Gelehrsamkeit besteht, sondern auch im Hinblick auf sein fortgeschrittenes Alter: Er war wie ein siebzigjähriger Mann und widmete diesem Thema viel Zeit, so dass er in der Lage hätte sein müssen, seine Kollegen davon zu überzeugen4, dass seine Ansicht richtig ist. Wenn er jedoch nur wie ein alter Mann aussah, wie konnte er dann erwarten, dass seiner rechtlichen Auffassung gefolgt wird?
Es ist ein bekannter Grundsatz, dass die Beispiele und Analogien der Tora nicht einfach nur Gleichnisse sind. Sie entwickeln sich aus dem Nimschal (der Aussage oder der ethischen Lektion, die aus dem Gleichnis abgeleitet werden soll) selbst.5 Die Analogie, wie ein alter Mann zu erscheinen, ist daher recht passend: R. Elasar war in der Tat ein Mann von siebzig Jahren, wenn auch in einem geistigen Sinne. So heißt es im Siddur Arisal, dass R. Elasar, wenn man all seine Jahre seit der ersten Inkarnation seiner Seele zusammen zählt, siebzig Jahre alt war.6
R. Elasar fragt sich also: „Und doch ist es mir nicht gelungen“: Da er auf der geistigen Ebene bereits ein alter Mann war, hätte es ihm gelingen müssen, die Regelung nach seiner Meinung zu etablieren.
Der geistige Zustand seines „hohen Alters“ hatte sich mit der Tora verbunden, wie aus seiner Erwartung hervorgeht, dass die gesetzliche Regelung seine Sichtweise vertritt. Die Tora beherrscht und bestimmt die physische Realität.7 R. Elasars geistiger Zustand manifestierte sich daher in der physischen Realität seines Aussehens als siebzigjähriger Mann – selbst auf der äußersten Ebene (d. h. den Haaren, die dem Körper gegenüber nachrangig sind8 ). So heißt es im Jeruschalmi im Kommentar zu dem Vers9 „zu G-tt, der für mich beschließt“, dass die Realität der Welt nach den Regeln der Tora bestimmt wird.10
VI. Darin liegt eine ethische Lektion für die Awoda eines jeden.
Manchmal werden wir mit Situationen konfrontiert, in denen es scheint, dass wir mit unseren derzeitigen Fähigkeiten nicht in der Lage sind, sie zu bewältigen. Deshalb müssen wir erkennen: Die meisten Seelen in unserer Generation sind keine neuen Seelen, sondern solche, die schon früher inkarniert waren.11 So ist es möglich, dass sich auch positive Kräfte früherer Inkarnationen jetzt manifestieren und uns in unserer jetzigen Awoda helfen. Dies gilt nicht nur für die Bereiche des Intellekts und der Emotionen (die „inneren Fähigkeiten“), sondern auch für die Bereiche des Denkens, Sprechens und Handelns (die „äußeren Fähigkeiten“, analog zu den „Haaren“) im täglichen Leben.12
VII. Man könnte aus dem Stand die folgende Frage aufwerfen: Wenn es möglich ist, die Aspekte einer früheren Inkarnation ins Spiel zu bringen, scheint es, dass dies auch die negativen Aspekte (das Böse) einschließt; und wer kann sagen, wie sein Status in der vorangegangenen Existenz war? Woher soll man die Kraft nehmen, um das Böse zu bekämpfen und seine Awoda auszuführen?
Die Antwort liegt in der Tatsache, dass das Gute eine Realität ist, die von Dauer ist. Wenn ein Jude eine Mizwa tut, bleibt diese für immer bestehen, wie es im Tanja heißt: „Diese Verbindung ist ewig in den oberen Sphären ...“13 Das Böse hingegen hat keine Realität. Es ist lediglich ein Zustand der Verhüllung und Verbergung (des Guten).14 Wenn also jemand bereits einer körperlichen oder geistigen Strafe unterzogen wurde, die (den Makel der Sünde) reinigt,15 oder wenn er Teschuwa getan hat, wurde das Böse mit Sicherheit zunichte gemacht.16 Wie viel mehr gilt dies für Teschuwa aus einem Gefühl der Liebe heraus, die absichtliche Sünden in Tugenden verwandelt.17
VIII. All dies bietet auch eine Antwort für diejenigen, die fragen: „Wie ist es möglich, dass wir heute die Manifestation des Maschiach verdienen, wenn die vorangegangenen Generationen dies nicht verdienten? Ist denn unsere Generation geeigneter?“18 Die Antwort ist, dass unsere heutige Generation auch die Güte und Tugend früherer Generationen in sich vereint.19 Deshalb werden wir gerade jetzt das Kommen des Maschiach verdienen, und zwar bald, in unseren eigenen Tagen.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten an Pessach 5718)
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