XII. Es steht geschrieben: „Und du sollst die Bretter für den Mischkan aus Schitim-Holz machen, stehend.“1 Der Rebbe, mein Schwiegervater, erklärt, dass Schitim die Bedeutung hat von Hataja, vom Weg abkommen, abweichen.2
Es gibt einen „mittleren Weg“, den Weg des Verstandes und der Vernunft.3 Von diesem Mittelweg abzuweichen, wird Schitim, Schtut (Torheit) genannt.4
Es gibt zwei Arten von Abweichung: a) Eine Abweichung, die irrational ist – „niedriger als die Vernunft“, die „Torheit der anderen Seite“ (gegen die Heiligkeit gerichtet), und wie unsere Weisen es ausdrückten: „Ein Mensch sündigt nicht, es sei denn, ein Geist der Torheit dringt in ihn ein.“5 b) Eine Abweichung, die supra-rational ist – „höher als die Vernunft“, die „Torheit der Heiligkeit“, und wie unsere Weisen es ausgedrückt haben: „Seine Torheit kam dem alten Mann zugute.“6 Die Awoda des Mischkan und des Mikdasch diente dazu, die „Torheit der anderen Seite“ in eine „Torheit der Heiligkeit“ zu verwandeln.7
XIII. Man kann sich nicht mit dem Mittelweg begnügen; es ist unerlässlich, die „Torheit der Heiligkeit“ zu erreichen, Vernunft und Wissen zu überwinden.
Wenn es in dieser Welt keine profane Torheit gäbe, wäre der mittlere Weg ausreichend gewesen. Die Sünde des Baumes der Erkenntnis hat jedoch Unreinheit in die ganze Welt gebracht, die „Torheit der anderen Seite.“ Diese kann nur durch das Gegengewicht der „Torheit der Heiligkeit“ überwunden werden.
So wie dies für den Makrokosmos, die Welt als Ganzes gilt, so gilt es auch für den Mikrokosmos, den Menschen, jedes Individuum. Wenn jemand gesündigt, einen Makel verursacht und eine Übertretung begangen hat, oder auch nur eines dieser drei, kann er nicht mehr auf dem mittleren Weg weitergehen. Er muss über das Mittelmaß hinausgehen, und wie in Iggeret haTeschuwa8 erklärt, muss die ursprüngliche Verbindung durch einen doppelten und vierfachen Knoten wiederhergestellt werden.
Diese Prämisse wird auch von Rambam formuliert:9 Im Allgemeinen muss man den mittleren Weg einschlagen; wenn man aber zu sehr in eine Richtung abgewichen ist, besteht die Korrektur darin, sich dem anderen Extrem zuzuwenden.
XIV. In diesem Zusammenhang können wir verstehen, warum die Gemara den Begriff ufarazta für die höchste Stufe verwendet: „[‚Ein grenzenloses Erbe ...‘] nicht wie Awraham, von dem geschrieben steht: ‚Steh auf, wandle ...‘, noch wie Jizchak, von dem geschrieben steht: ‚Denn dir … will Ich geben ...‘, sondern wie Jaakow, von dem geschrieben steht: ‚Ufarazta‘ – und du sollst dich ausbreiten nach Westen und nach Osten und nach Norden und nach Süden.“10
Das ist nicht ganz klar. Was ist der große Vorteil von ufarazta gegenüber all den anderen Stufen, die dort in der Gemara erwähnt werden?
Wir können dies verstehen, indem wir zunächst ein weiteres Detail im Aspekt ufarazta erläutern.
Das Wort „ufarazta“ bedeutet nicht einfach „sich ausbreiten“, sondern vielmehr „Trennungen, Grenzen aufheben.“ In Bezug auf ein offenes Feld kann man diesen Begriff nicht verwenden. Er bezieht sich nur auf ein Gebäude oder eine Mauer, von der ein Teil entfernt wurde; das kann man Periza (einen Abbruch) – ufarazta nennen.
Das Gebäude oder der Zaun, von dem es heißt, dass es ufarazta, einen Abbruch, geben soll, muss zum Bereich der Heiligkeit gehören. Wäre es ein Gebäude der „anderen Seite“ [Unreinheit], könnte man es nicht wirklich als Gebäude bezeichnen; seine bloße Existenz ist bereits eine Ruine, ein abgebrochenes Gebäude (wie z.B. unsere Weisen sagten: „Cäsarea wurde nur durch die Zerstörung Jeruschalajims voll“).11 Ein solches Bauwerk zu zerstören ist kein Abbruch, sondern ein Aufbau. Wenn also die Tora der Wahrheit den Begriff ufarazta verwendet, muss er sich auf einen echten Abbruch beziehen.
Dies wirft nun eine Frage auf. Welchem Zweck dient es, ein Gebäude abzubrechen, das die Tora als Gebäude bezeichnet?
Wir können dies im Lichte des oben Gesagten verstehen. Diese Art des Handelns gehört zur Torheit der Heiligkeit, die über den mittleren Weg hinausgeht. In der Tat ist der mittlere Weg der richtige Weg gemäß der Tora. Nichtsdestotrotz muss es ufarazta geben: über alle Grenzen hinausgehen, sogar über die Grenzen und Begrenzungen der Heiligkeit, die als „Gebäude“ bezeichnet werden.
Diese Torheit der Heiligkeit, die die Vernunft und den Intellekt übersteigt, die alle Grenzen, auch die der Heiligkeit, übersteigt, das ist das „Erbe Jaakows“,12 des „Auserwählten der Patriarchen“,13 die höchste Stufe, größer als das Erbe Awrahams und das von Jizchak.
XV. Die praktische Auswirkung ist folgende:
Studenten an Jeschiwot, und „die im Zelt der Tora wohnen“ im Allgemeinen, sollten sich nicht mit ihren festen Zeiten für das Tora-Studium zufriedengeben. Selbst die festen Zeiten, die in die Kategorien Mehadrin oder Mehadrin min haMehadrin14 fallen, sind nicht ausreichend. Es muss ufarazta geben, den Aspekt „Seine Torheit kam dem alten Mann zugute“, um über die Vernunft und den Intellekt hinauszugehen, über alle festen Zeiten hinaus.
Die wichtigste Awoda von Laien (die mit ihrem Lebensunterhalt beschäftigt sind) ist Kijum haMizwot (Erfüllung der Mizwot), und insbesondere die Mizwa der Zedaka, die „gleichwertig ist mit allen Mizwot zusammen genommen.“15 Sie müssen erkennen, dass all die Dinge, die in Bezug auf die Zedaka bestimmt sind, sogar die Zedaka auf der idealen Ebene – wie sie von den Gesetzbüchern und späteren Autoritäten definiert wurde,16 in der Tat ein „auserlesenes Gebäude“ aus der Tora-Perspektive sind, aber für sie nicht ausreichen. So wird in Iggeret haTeschuwa17 und Iggeret haKodesch18 erklärt: „Alles, was der Mensch hat, gibt er für sein Leben.“19 Es gibt diejenigen, die denken, dass diese Anweisung nicht auf sie zutrifft, weil sie in nichts nachlässig sind: Aber sicherlich sind sie unzulänglich in der Angelegenheit der Himmlischen Jichudim,20 denn in diesen gibt es keine Grenze, und deshalb müssen auch sie Zedaka in einer Weise von ufarazta geben.
XVI. Der Maschiach wird Porez (der Durchbrechende) genannt.21 Um diesen Porez sehr schnell zu bringen, ist das Gebot der Stunde Limud haTora (Studium der Tora) und Kijum haMizwot (Erfüllung der Mizwot) – und besonders Zedaka – in der Art von ufarazta.
Grenzenloses Limud haTora von allen, die Tora studieren, insbesondere von Jeschiwa-Studenten, und unbegrenztes Kijum haMizwot – und insbesondere von Zedaka – von Laien wird bewirken, dass „das Dach und der Boden wirklich eins werden“;22 d. h., die Tora, die ein Dach symbolisiert, und die Mizwot [bei deren Erfüllung physische Materie verwendet wird], die den Boden symbolisieren, werden wahrhaftig eins sein, denn alle Unterscheidungen, Trennungen und Begrenzungen werden beseitigt werden, und der Porez wird sich vor uns erheben,23 und zwar sehr bald.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am Jud Schewat 5719)
Ergänzung24
XVII. Wir haben besprochen, dass ufarazta in allem vorherrschen muss.
Wir stehen nun am Beginn eines neuen Jahres und einer neuen Ordnung25 – der Ordnung des Herabziehens von oben nach unten. So muss es zuallererst ufarazta mit der Tora geben. Die Tora muss ausgiebig studiert werden, ohne auf die Uhr zu schauen.
Wenn es schon notwendig ist, die Tora-Studenten, die „im Zelt der Tora wohnen“, darauf aufmerksam zu machen, so gilt dies erst recht für die Laien. Ein Laie darf seine Zeiten für das Tora-Studium nicht nach dem festlegen, was er für ausreichend hält, sondern nach dem Prinzip ufarazta.
Ein Chassid des Alten Rebben hat einmal das Sprichwort „Perek echad Arwit (ein Kapitel am Abend)“ interpretiert:26 Die Art und Weise, Tora zu lernen, sollte so sein, dass Perek echad – der Echad ihn „auseinandernimmt“, und dann Schacharit – wird ihm Licht erstrahlen; uPerek echad – und wenn der Echad ihn auseinandernimmt, dann Arwit – werden die Dinge süß sein.27
Dieser Ansatz muss dann fortgesetzt werden und sich von der Tora bis zur Awoda – dem G-ttesdienst – erstrecken. Auch im G-ttesdienst muss es ufarazta geben. Diejenigen, die im Zelt der Tora wohnen, müssen vor dem Gebet, während des Gebets und auch nach dem Gebet lange und tiefgründig darüber reflektieren.28
Die Gelegenheit für diese Betrachtung durch Laien ist begrenzt, aber diese Begrenzung muss selbst begrenzt sein. Sie sollte nicht so schnell und kurz sein, dass es keine Möglichkeit gibt, „einen Faden in ein Nadelöhr einzufädeln“ – das Nadelöhr, von dem es heißt: „ Öffnet für Mich eine Pforte wie ein Nadelöhr, und Ich werde euch eine Pforte öffnen wie der Eingang zu einer großen Halle.“29
Auf der empirischen Ebene sehen wir, dass einige in einer Minute mehr Gewinn haben können als andere in vielen Stunden. Auch beim Gebet mag man nicht viel Zeit haben, aber in dieser begrenzten Zeit muss man sich im Gebet anstrengen, und der Allmächtige wird ihn mit dem Erfolg segnen, dass sich die wenige verfügbare Zeit als wirksam erweisen wird.
Das Gebet ist ein Aspekt von Razo,30 und daraus muss man ufarazta auch in Bezug auf Gemilut Chassadim, das Ausüben von liebender Güte und Wohltaten durch Wort und Tat, herleiten. Dies bezieht sich auf unsere ausführliche Diskussion zum Thema „Diejenigen, die sie unterstützen, sind glücklich“:31 „Diejenigen, die sie unterstützen“ bezieht sich auf die Unterstützer der Tora. Der Zehnte ist eine Pflicht; bis zu einem Fünftel zu geben, wurde in Uscha verordnet.32 Was das Geben von mehr als einem Fünftel betrifft, so wird in Iggeret haTeschuwa und Iggeret haKodesch erklärt, dass man dies auch tun sollte, um unangemessenes Verhalten zu korrigieren.33 In diesen Quellen, Iggeret haTeschuwa und Iggeret haKodesch, steht es im Zusammenhang mit Wiedergutmachung für begangene Verfehlungen usw.; um wie viel mehr gilt dies dann, wenn es für einen positiven Zweck ist.34
Vom Baal Schem Tow35 wird gesagt, dass er mehr als ein Fünftel für Zedaka spendete. Als er gefragt wurde, ob dies ein Verstoß gegen „hamewasbes“ sei – „Wenn jemand haMewasbes (übermäßig viel ausgeben) will, sollte er nicht mehr als ein Fünftel ausgeben“36, antwortete er: Mewasbes ist sprachlich verwandt mit Bisa – Beute, Plündergut (wie im Krieg genommen); das bedeutet, dass wir von einer Person sprechen, die wirklich nicht geben will und Krieg mit sich selbst führen muss, um sich zu zwingen und die Gabe von sich loszureißen, genau wie bei Kriegsbeute. Von ihm wird gesagt, dass er nicht mehr als ein Fünftel ausgeben soll. Anders ist es bei jemandem, der sich über das Geben freut und es genießt (denn warum sollte sich Zedaka von anderen Vergnügungen und Bedürfnissen unterscheiden, für die man ohne gesetzliche Beschränkungen Geld ausgibt?).
Sicherlich kann man argumentieren, dass er noch nicht die Ebene erreicht hat, auf der er Freude und Vergnügen beim Verteilen von Zedaka empfindet, aber genau hier kommt das Prinzip ufarazta ins Spiel. Außerdem kann man sich der Verheißung „Und prüft mich jetzt damit“37 sicher sein, was dazu beitragen wird, Freude und Vergnügen zu erreichen.
Der Grundsatz ufarazta gilt auch für diejenigen, die in Tora-Institutionen arbeiten. So wie die Studenten nicht auf die Uhr schauen sollen, so auch ihre Lehrer usw. Sie sollen nicht einfach die ihnen zugewiesene Arbeitszeit beenden, sondern sich ohne Berechnung engagieren.
Wenn wir dieses Prinzip ufarazta in allen genannten Zusammenhängen befolgen, wird der Allmächtige jeden mit ufarazta auch in seinen persönlichen Angelegenheiten segnen, bis hin zu einem „Erbe, das keine Grenzen kennt.“38
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