XI. Es gibt eine Aufzeichnung des Rebben, meines Schwiegervaters, mit Erinnerungen an seinen Großvater, den Rebben Maharasch, und auch an seine Großmutter, die Rebbezen Riwka (Frau des Maharasch) – deren Jahrzeit ebenfalls auf Jud Schewat fällt.

Unter diesen Erinnerungen befindet sich eine Geschichte, die bereits im Druck erschienen ist.1 Als die Rebbezen achtzehn Jahre alt war, war sie sehr krank. Der Arzt ordnete an, dass sie sofort nach dem Aufwachen am Morgen essen sollte. Da sie nicht vor dem Beten essen wollte,2 stand sie sehr früh auf, betete und aß dann. So schaffte sie es, nicht vor dem Gebet zu essen und trotzdem früh zu essen. Das war natürlich nicht förderlich für ihre Genesung und bedeutete auch einen Mangel an ausreichendem Schlaf.

Der Zemach Zedek (ihr Schwiegervater) sagte ihr damals: „‚Ein Jude muss gesund und stark sein. Von den Mizwot heißt es, dass man durch sie leben soll.‘3 Das bedeutet, dass man Leben, Vitalität, in die Mizwot bringen muss – [im Sinne der Erklärung des Maggid von Mesritsch, zitiert im Ma-amar].4 Um Vitalität in die Mizwot zu bringen, muss man stark und fröhlich sein.“ Der Zemach Zedek schloss: „Verzichte nicht auf das Essen. Es ist besser, um des Betens willen zu essen, als um des Essens willen zu beten!“

XII. Alles, was die Rebben erzählten, insbesondere die Dinge, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, sind nicht einfach Anekdoten. Die Tatsache, dass es von Generation zu Generation weitergegeben wurde, zeigt, dass es für diejenigen, die es hören, relevant ist – damit sie daraus lernen können.5

XIII. Die Beziehungen des Menschen fallen im Allgemeinen in zwei Kategorien:

(a) Handlungen, die sich auf G-tt beziehen – wie das Lernen der Tora, das Gebet und das Befolgen der Mizwot; und (b) Handlungen, die sich auf einen selbst beziehen – nämlich solche Dinge, die wirklich wesentlich sind oder für den Menschen offensichtlich notwendig werden.

Diese beiden Kategorien können mit „Gebet“ und „Essen“ bezeichnet werden. Das Gebet, die erste Kategorie, bedeutet, sich G-tt zuzuwenden, sich an ihn zu binden und „Wisse, vor wem du stehst – vor dem König aller Könige, dem Heiligen, gesegnet sei Er.“6 Die zweite Kategorie ist das Essen: Der Mensch hungert nach all seinen Bedürfnissen, und wenn er diese erwirbt – „Essen“ –, wird sein Hunger gestillt.

XIV. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie man beten und wie man essen kann.

Es besteht die Möglichkeit einer gespaltenen Persönlichkeit: Beten und Essen sind völlig voneinander getrennt. Während des „Gebets“ (d. h. beim Lernen der Tora, beim Befolgen der Mizwot und beim Beten) ist er so weit von weltlichen Gedankengängen entfernt, dass man meinen könnte, er sei ein vollkommener Heiliger.

Später jedoch, wenn er sich mit weltlichen Dingen beschäftigt – mit Geschäften oder mit Essen im wörtlichen Sinne –, kann man in ihm keine Spur von Heiligkeit, Spiritualität und Verfeinerung entdecken.

Sicherlich könnte man bei dieser Art von Menschen fragen: „Reden wir von Narren?“ Gewiss haben wir es nicht mit bösen Menschen zu tun.

Eine andere Möglichkeit ist derjenige, für den „Gebet“ und „Essen“ miteinander verbunden sind. Er sieht im Schulchan Aruch nach und befolgt dessen Regeln in allen seinen Angelegenheiten. Dennoch – er betet um des Essens willen.

Er erkennt, dass er von G-tt abhängig ist. Der Weg, um seine Bedürfnisse von G-tt gestillt zu erhalten, ist, wie die Tora sagt: „Wenn ihr in Meinen Geboten wandelt ... dann werde Ich euch den Regen zu seiner Zeit geben.“7 So gehorcht er den G-ttlichen Geboten, damit er G-tt eine „Einzahlungsquittung“ zeigen kann – damit G-tt ihn mit allem, was er bedarf, als Bezahlung für sein Gebet versorgt.

Allerdings sagt die Gemara ausdrücklich, dass derjenige, der sagt: „Ich bringe diese Sela (Münze) für Wohltätigkeit auf, damit meine Kinder leben können“, eine vollkommen rechtschaffene Person ist.8 Daraus folgt, dass das Beten um des Essens willen eine legitime Haltung ist.9 Tatsächlich schränkt Raschi ein,10 dass dies nur für eine Person gilt, die „regelmäßig spendet“, im Gegensatz zu einer Person, die nur einmal spendet und dann – wenn sie sieht, dass ihr Kind lebt – aufhört. Aber selbst wenn er regelmäßig spendet, ist dies wegen des Hintergedankens natürlich nicht der ideale Weg.

Wiederum sagt die Gemara, dass man die Tora studieren und die Mizwot befolgen sollte, auch wenn man es nicht lischma tut;11 aber die Gemara bietet auch den Grund an: weil er letztendlich die Tora studieren und die Mizwot lischma befolgen wird.

XV. Der ideale Weg und das Ziel besteht nicht darin, das Gebet vom Essen zu trennen, auch nicht darin, um des Essens willen zu beten, sondern – um des Betens willen zu essen.

Es ist sicherlich selbstverständlich, dass es ein „Gebet“ um seiner selbst willen geben muss. Da wir wissen, dass der Allmächtige will, dass wir die Tora lernen und die Mizwot befolgen, ist es unvorstellbar, dass wir gegen Seinen Wunsch handeln. Man betet also ohne die Absicht, eine Belohnung zu erhalten, einfach weil es ein G-ttliches Gebot ist.12 Man kümmert sich nicht darum, ob man dadurch einen Anteil in der kommenden Welt erhält, geschweige denn eine Vergütung in dieser Welt.

Doch selbst diese Haltung ist unzureichend. Es ist notwendig, dass auch das „Essen“ um des Gebets willen geschieht. D. h., alle seine Angelegenheiten müssen heiligen Zwecken dienen, wie es geschrieben steht: „Erkenne Ihn auf all deinen Wegen.“13

Das Ziel des Menschen besteht nicht darin, reich zu sein, ein hohes Rating bei Dun and Bradstreet (Anm. des Übers.: amerikanische Wirtschaftsauskunftei) zu haben und in der höchsten Steuerklasse zu liegen. Dies ist nicht der eigentliche Zweck des Lebens. Vielmehr wurde der Mensch so geschaffen, dass all sein Tun ein heiliges Ziel hat: in Ruhe die Tora zu studieren, die Mizwot ausgiebig zu befolgen und großzügig zu spenden.

Außerdem sollte man sich nicht damit begnügen, dieses Ziel nur für sich selbst anzustreben, sondern auch andere dazu zu beeinflussen. Die Tatsache, dass er wohlhabend ist, macht es ihm so viel leichter, andere zu beeinflussen. Denn wir sehen, dass man sich über einen Armen lustig macht, während ein Wohlhabender selbst dann zum Vorbild genommen wird, wenn er etwas Dummes tut – erst recht denn, wenn er weise handelt. Wenn er also Tefillin trägt, werden auch andere Tefillin tragen; wenn er den Schabbat hält, werden es auch andere tun – denn sie werden sehen, dass er Reichtum erlangt hat, weil er den Schabbat hält; wenn er Rabbenu Tam Tefillin anlegt,14 werden es auch andere tun; und wenn er Mazza schmura isst,15 werden alle gewöhnlichen Mazza-Bäckereien schließen, denn jeder wird Mazza schmura essen.

Dies ist die Bedeutung von „Essen um des Betens willen“. Alle menschlichen Belange und Bedürfnisse (kategorisiert als Essen) müssen um des Betens willen sein (das umfassende Prinzip für alle Aspekte der Tora und der Mizwot), um mit ihnen zu bewirken, „dass er durch sie lebt“, d. h., um die Tora und die Mizwot mit Lebenskraft zu erfüllen.

XVI. Eine zusätzliche Lektion ergibt sich aus der Tatsache, dass diese besondere Anweisung („besser um des Betens willen essen, als um des Essens willen beten“) einer Frau gegeben wurde, einer Mutter von Kindern – von denen eines ein Nassi (Anführer) von Israel wurde.

Es ist vor allem die Mutter, die dafür sorgen kann, dass die Kinder „um des Betens willen essen“ statt „um des Essens willen beten“ oder „Gebet“ und „Essen“ in zwei getrennte Welten aufzuteilen.

Die Mutter selbst muss dieser Lebensweise folgen und ihren Kindern diesen Geist von frühester Kindheit an einflößen. Schon in der Krippe muss ihnen das Gefühl vermittelt werden, dass alles dem Zweck der „Verbundenheit mit G-tt“ dienen muss; sonst ist das Essen, auch wenn es leicht zu haben ist, geschmacklos.

Auf diese Weise zieht man Kinder groß, die zu angesehenen Menschen in Israel heranwachsen werden. Sie werden wissen, wie man betet, und sie werden genug zu essen haben – und sie werden gemäß der Absicht G-ttes essen, dessen Wille es ist, alles aus „Seiner vollen, offenen, heiligen und großzügigen Hand“ zu geben, so dass es nicht nur reichlich Nachkommen gibt, sondern auch reichlich Leben und reichlich Nahrung.

Möge es so sein: „Ich werde für euch einen Segen ausschütten, dass es mehr als genug sein wird“16 – ein Haus, das geistig und materiell gesegnet ist, Freude für den Vater und die Mutter an ihren Kindern für viele gute Tage und Jahre, Freude im geistigen und im physischen Sinne.

(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am Jud Schewat 5719)