Kurz vor Mattan Tora, der Übergabe der Tora, versammelte sich das gesamte jüdische Volk um den Berg Sinai. Der Berg war von Feuer umgeben und eine g-ttliche Wolke ruhte auf dessen Gipfel. Die ganze Welt kam zum Stillstand, als das Schofar ertönte; Donner grollte und Blitze zuckten im Hintergrund.
In Talmud und Midrasch berichten uns unsere Weisen s. A. mehr von dem, was damals geschah. Rabbi Akiva erzählt uns, dass das jüdische Volk tatsächlich "den Donner sehen und die Blitze hören" konnte. Warum berichtet Rabbi Akiva uns eigentlich davon?
Viele andere Wunder geschahen bei diesem Ereignis: So hörten alle Vögel plötzlich auf zu singen, genau in dem Moment als die Tora übergeben wurde; Blumen und fruchttragende Bäume sprossen auf einmal aus dem Wüstenboden; und am Wichtigsten - das jüdische Volk hörte wahrhaftig die Stimme G-ttes, wie sie ihm das Gesetz verkündete. Berichtet Rabbi Akiva also einfach nur über ein weiteres Wunder?
Keineswegs. Rabbi Akiva lehrt uns hiermit etwas sehr Wesentliches. Er lehrt uns, wie ein Jude die Tora sowie die Welt um ihn herum betrachten soll.
Wir sehen üblicherweise physische Gegenstände, jedoch keine Ideen oder Gedanken. Mit unseren Ohren können wir hingegen Ideen zuhören - ja, selbst den tiefsten und heiligsten Gedanken über G-tt.
Die Tora leitet einen Juden dazu an, die Dinge, die er vor sich sieht, eingehender zu betrachten. Und er soll nach den Dingen Ausschau halten, von denen seine Ohren gehört haben. Und selbst wenn wir viele Dinge nicht physisch sehen können, so sind sie dennoch vorhandene Realität. Es ist unsere Aufgabe, tiefer zu blicken und die Heiligkeit in allen Dingen zu entdecken - und sie schließlich ans Tageslicht zu bringen.
Nehmen wir zum Beispiel einen köstlichen, roten Apfel. Der Verkäufer auf dem Wochenmarkt mag uns über den Apfel sagen, dass "er rot, wohlgeformt und sehr süß ist." Er betrachtet den Apfel als eine schöne und schmackhafte Frucht. Ein Jude, der über den Apfel eine Bracha (einen Segensspruch) spricht, sieht in dem Apfel mehr als nur eine Frucht. Er erkennt den Segen G-ttes darin und dankt G-tt dafür, dass Er den Apfel hat wachsen lassen.
Dies ist es, was Rabbi Akiva damit meinte als er sagte, dass das jüdische Volk das Hörbare sehen konnte - nämlich dass die Tora uns in die Lage versetzt, tiefer zu blicken und die Heiligkeit in der Welt, die uns umgibt, zu sehen.
Mit seinem eigenen Leben gab Rabbi Akiva uns ein Beispiel dafür, wie man tiefer blicken kann, als unsere Augen zu sehen vermögen. Er begleitete einst eine Gruppe von Tora-Weisen, wie sie an dem Ort vorbeikam, an dem einst der heilige Tempel vor seiner Zerstörung stand. Plötzlich kam ein Fuchs aus den Ruinen gelaufen. Als die Gelehrten den Fuchs sahen, brachen sie in Tränen aus. "Wie entsetzlich! Seht nur, was aus unserem heiligen Ort geworden ist!" klagten sie.
Rabbi Akiva hingegen klagte nicht; stattdessen sahen die Weisen, wie er lächelte. "Wie kannst du nur so heiter sein beim Anblick dieser Zerstörung?" fragten sie ihn erstaunt.
"Ich bin heiter, weil ich mehr sehe als das, was meine Augen erfassen," erwiderte Rabbi Akiva, "denn genauso, wie G-tt seine Warnung, die Stadt zu zerstören, wahrgemacht hat, so wird er auch sein Versprechen, den heiligen Tempel wieder aufzubauen, einlösen. Der zerstörte Tempel hilft mir dabei, das wieder aufgebaute Jerusalem zu schauen sowie das Herannahen der endgültigen Erlösung zu hören."
(Übersetzt aus "Please Tell Me What the Rebbe Said, Vol. I", basierend auf Likutei Sichot, Band VI, Paraschat Jitro)
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