IX. Die Worte He Lachem Sera („Siehe, hier ist Saatgut für euch“)1 spielen auf Josefs Befehl an, die Ägypter zu beschneiden.2 In den Schriften von R. Jizchak Luria3 heißt es, dass diese Handlung die Lebenskraft Ägyptens – d. h., der Kelipot (der Elemente des Bösen), die das ägyptische Exil bedeuten – verstärkte.4 Die Parallelstelle He Lachma Anja („Siehe, hier ist das Brot der Bedrängnis“)5 spielt ihrerseits auf die Erlösung an.
(Aus diesem Grund wird die letztgenannte Passage im Nusach Arisal mit He – vokalisiert mit Zere – und nicht mit Ha – vokalisiert mit Kamaz – gelesen. Diese Betonung wirkt sich auf den eigentlichen Sinn aus: Ha – mit Kamaz – bedeutet: „Dies ist das Brot der Bedrängnis, das unsere Vorfahren im Land Ägypten gegessen haben“; He – mit Zere – bedeutet: „Siehe, hier ist das Brot der Bedrängnis ...“6 )
X. He Lachma Anja soll das He Lachem Sera ausgleichen und berichtigen. Aber das wirft die Frage auf: „Was war so falsch daran, dass Josef He Lachem Sera gesagt hat?
Es scheint, dass Josefs Verhalten keine schlechten Folgen haben sollte; tatsächlich sollte es als eine Errungenschaft angesehen werden. Zum einen hat er dadurch, dass er die Ägypter veranlasste, „in Städte von einer Grenze Ägyptens zur anderen“7 umzuziehen, einem Vorwurf gegen seine Brüder vorgebeugt; denn nun konnten die Ägypter sie nicht mehr Exilanten nennen.8 Außerdem steht Josef im geistigen Sinne für das Konzept „Der Gerechte ist das Fundament der Welt“9 ; denn alle seine Taten waren Haschpa-ot – Ausbreitungen der G-ttlichkeit. So war es sicherlich angemessen, die G-ttlichkeit an alle zu verbreiten, sogar an die Ägypter!
Der Fehler liegt jedoch darin, dass Josef das alles aus eigenem Antrieb tat. Zwar brachte Josef die Ägypter der Heiligkeit näher, aber da er dies ganz aus eigenem Antrieb tat, verstärkte sein Handeln auch die Vitalität der Kelipot – denn die Ägypter waren ihrerseits überhaupt nicht bereit und tauglich für diese Verbreitung von G-ttlichkeit. Dies wiederum verstärkte die ägyptische Galut, wie es heißt, He Lachma Anja – „Siehe, hier ist das Brot der Bedrängnis, das unsere Vorfahren im Land Ägypten gegessen haben“: Josefs Ausspruch He Lachem Sera war eine Ursache für die Strenge des ägyptischen Exils.
Eine analoge Situation finden wir bei Mosche. Dass er die gemischte Schar aus eigenem Antrieb mitnahm, führte zur Sünde des goldenen Kalbes. So sagte der Allmächtige zu ihm:10 „Dein Volk, das du aus dem Land Ägypten geführt hast, ist verdorben.“11
XI. Der Rebbe, mein Schwiegervater, erwähnte in vielen seiner Briefe und in verschiedenen Reden, dass der wichtigste Aspekt von allem, was studiert wird, das Bechejn (das „deshalb“, das praktische Ergebnis) in Bezug auf die Awoda ist.12
Die Relevanz des oben Gesagten in Bezug auf die Awoda ist wie folgt.
Man ist ständig verpflichtet, sich um jeden Menschen zu kümmern, egal wer es ist, und ihn der Jiddischkeit näher zu bringen. Dennoch muss man immer im Hinterkopf behalten, niemals vom Prinzip abzuweichen. Sich mit anderen anzufreunden und sie der Jiddischkeit näher zu bringen, darf niemals Tora und Mizwot gefährden.
Denn es gibt ein bekanntes Sprichwort: Wenn jemand ertrinkt, muss man ihn retten; aber man muss auch sehr darauf achten, nicht selbst zu ertrinken.
So haben wir bei einer früheren Gelegenheit13 erörtert, dass die Mischna14 „Sei einer der Schüler Aarons ... liebe die Geschöpfe und bringe sie näher zur Tora“ zwei Anweisungen vermittelt: (a) Man soll sich mit allen anfreunden, auch mit „Geschöpfen“ (d. h., sogar mit Menschen, deren einziger Verdienst darin besteht, dass sie G-ttes Geschöpfe sind15 ); und (b) Man muss dies tun, indem man sie „der Tora näher bringt“, d. h., man muss diese Menschen kompromisslos zur Tora bringen, im Gegensatz zur Anpassung der Tora an den Verstand der Menschen. Dies gilt für jeden Aspekt der Tora, ohne Ausnahme, und auch für unsere traditionellen Bräuche – denn „die Bräuche Israels sind Tora.“16
XII. In praktischer Hinsicht:
Es gibt diejenigen, die argumentieren – warum sollte man sich an Details halten, wenn man Juden zur Jiddischkeit bringt? Wir könnten zum Beispiel die spezifischen Anforderungen der Mechiza in einer Schul17 usw. ignorieren, und das wird mehr Menschen in die Schul bringen, die dann der Jiddischkeit näher gebracht werden.
Andere argumentieren: Sicherlich sollte man in einer Umgebung von observanten Juden sehr darauf achten, auch das kleinste Detail zu beachten; aber an einem Ort, an dem man sich gegen die Einhaltung von Tora und Mizwot wehrt, sollte man weniger wichtige Aspekte übersehen, um das Wesentliche zu bewahren.
Das ist jedoch so, als würde man argumentieren, dass man zu Hause und in einer Zeit des Friedens voll bewaffnet gehen sollte; obwohl es eine Zeit des Friedens sein kann – und ist –, sollte man voll bewaffnet sein. In Kriegszeiten hingegen sollte man unbewaffnet gehen, weil man (a) nicht als Feind erkannt werden will und (b) im Bedarfsfall mobiler sein wird. Die Absurdität dieses Arguments liegt auf der Hand.
XIII. Vor vielen Jahren erklärte einer der Redner auf einer rabbinischen Konferenz, dass es zum Trinken einen Unterschied macht, ob das Wasser sauber ist oder nicht; aber zum Löschen eines Feuers spielt es keine Rolle, welche Art von Wasser verwendet wird. Der Rebbe, mein Schwiegervater, erwiderte daraufhin: Das ist gut und schön, wenn es sich bei der Flüssigkeit um Wasser handelt und unsere einzige Sorge ist, ob es sauber ist oder nicht. Was aber, wenn die Flüssigkeit kein Wasser, sondern Kerosin ist? Dann werden wir das Feuer nicht nur nicht löschen können, sondern es sogar vergrößern und verstärken, obwohl auch Kerosin eine Flüssigkeit ist!
Das Gleiche gilt für unsere Diskussion: Selbst die Änderung eines traditionellen Brauchs wird sich nicht positiv auf die Umwelt auswirken, sondern eher das Gegenteil bewirken.
So finden wir in der Gemara18 eine Diskussion über die Sühne, die Jom Kippur bewirkt: Eine Meinung besagt, dass die Heiligkeit von Jom Kippur selbst Sühne bewirkt, unabhängig davon, ob man bereut hat oder nicht, sogar für Sünden, die an Jom Kippur selbst begangen wurden. Aber selbst nach dieser Meinung bewirkt die Heiligkeit von Jom Kippur keine Sühne für am Jom Kippur begangene Übertretungen, die gegen die spezifischen Verbote von Jom Kippur selbst verstoßen; denn ein und derselbe kann nicht gleichzeitig Ankläger und Verteidiger sein.19
XIV. Auf das Argument: „Wen stört schon die Vernachlässigung oder Verletzung einer Kleinigkeit, wenn dadurch das Wesentliche gerettet wird?“, gibt es zwei Antworten:
(a) Selbst wenn man annimmt, dass eine solche Handlung wirklich dazu beitragen würde, „Israel seinem Vater im Himmel näher zu bringen“, sagt die Schrift in diesem Zusammenhang: „Sei nicht übermäßig fromm.“20 Man darf nicht frommer sein als die Tora selbst! Wenn bestimmte Handlungen vom Schulchan Aruch verboten werden, darf man nicht religiöser sein als der Schulchan Aruch und sich nicht mehr Sorgen um die Wiederherstellung der Jiddischkeit machen als die Tora selbst.
Man könnte entgegnen: „Zugegeben, ich muss mich nicht mehr um andere sorgen, als die Tora selbst sich um sie sorgt; aber wen interessiert es, wenn ich mich doch sorge?“
Wir müssen antworten: „Du irrst dich, denn es ist dir nicht erlaubt, die Worte der Tora zu übertreten, auch nicht für religiöse Ideale. Wer sagt denn, dass der Zweck, andere zu inspirieren (dessen Erreichung nur vermutet wird), wichtiger ist als das ausdrücklich vorgeschriebene Gesetz im Schulchan Aruch?“
(b) Darüber hinaus gelten diese Antworten auch dann, wenn es sicher ist, dass das vorgeschlagene Verhalten zu wichtigen Ergebnissen führen wird. Da dieses Verhalten aber in Wahrheit gegen die Tora verstößt, kann damit kein guter Zweck erreicht werden, sondern es wird nur Schaden entstehen.
XV. Deshalb sagen wir: „He Lachma Anja – Siehe, hier ist das Brot der Bedrängnis, das unsere Väter im Land Ägypten gegessen haben“, um Josefs Aussage „He Lachem Sera – Siehe, hier ist Saatgut für euch“ zu korrigieren.
In der Tat sagen wir: Wir wissen, dass unsere Väter im Land Ägypten gegessen haben, weil Josef „He Lachem Sera“ gesagt hat; d. h., dies hat die Galut von Ägypten verursacht. Natürlich fügen wir hinzu: „Jeder, der hungrig ist, soll kommen und essen; jeder, der bedürftig ist, soll kommen und Pessach halten.“21 Diese Worte spielen in der Tat auf die Notwendigkeit an, alle Menschen der Jiddischkeit näher zu bringen. Dies muss jedoch in der von der Tora vorgeschriebenen Weise geschehen: „Jeder soll kommen und essen“ – aber unter der Bedingung, dass er „kommt und Pessach hält“, d. h., er muss und soll die gesamte Ordnung von Pessach halten.
Diesem Weg zu folgen, wird letztlich bewirken, dass wir zwar „dieses Jahr hier sind“ und „dieses Jahr Sklaven sind“, nächstes Jahr aber „im Land Israel sein werden“ und „nächstes Jahr frei sein werden.“22
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten in der zweiten Nacht von Pessach 5714)
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