Vor etwa 200 Jahren lebte ein frommer Mann namens Rabbi Naftali in Ropschitz. Er hatte alle Werke der großen Weisen früherer Generationen studiert und verstanden, auch die mystischen Lehren, und er half anderen Menschen gerne. Jeden Morgen, wenn er vom Gebet nach Hause zurückkam, legte er den Gebetsschal und die Tefillin weg und verließ sein Haus sofort wieder. Erst nachdem er das Geld, das er gesammelt hatte, an die Menschen verteilt hatte, die täglich vor seinem Haus standen, setzte er sich hin und aß ein wenig. Es war nicht einfach, denn die Reichen waren geizig, und die Armen hatten wenig zu geben. Aber er war froh, ein sehr wichtiges Gebot zu erfüllen und dadurch G-tt zu dienen.
Eines Tages hatte er das Geld verteilt und wollte sich die Hände waschen, um Brot zu essen, als jemand klopfte. Ein armer Mann hatte die Tür aufgeschoben und guckte durch den Spalt. Naftali öffnete die Tür und sagte:
„Tut mir leid, du musst morgen kommen. Ich habe alles Geld verteilt.“ Aber das traurige Gesicht des Armen veranlasste ihn, sein Handtuch wegzulegen und noch einmal Geld sammeln zu gehen. Aber diesmal hatte er Schwierigkeiten. An jeder Tür starrte man ihn wütend an, und es gab sogar zornige Bemerkungen. Er sammelte nur einen Bruchteil des üblichen Betrages. Dennoch kehrte er glücklich zurück, gab dem dankbaren Mann das Geld, wünschte ihm einen guten Tag und wollte sie erneut die Hände vor dem Frühstück waschen (obwohl es schon Mittag war).
Doch als er sich Wasser auf die Hände goss, hörte er, wie sich jemand hinter ihm räusperte. Er drehte sich um und sah noch einen Mann, der sich selbst Einlass verschafft hatte. „Ich weiß, Rabbi, ich komme spät, und Ihr seid beschäftigt. Ich will Euch nicht belästigen, G-tt behüte. Ich komme morgen wieder. Ich möchte nur jemandem von meinen Problemen erzählen. Es dauert nicht lange.“ Der Rabbi nickte.
„Meine Frau ist krank, und der Arzt sagt, ihr Leben sei bedroht. Meine Tochter wird älter, und ich habe kein Geld für eine Hochzeit. Und gestern ist mein Haus zusammengestürzt.“ Der Mann begann zu weinen, und Naftali legte wieder sein Handtuch weg, bot dem Mann einen Stuhl an, zog seinen Mantel an und ging erneut sammeln. Dieses Mal war alles anders. Als die erste Tür sich öffnete (zum dritten Mal an diesem Tag), begrüßte der Hausherr den Rabbi nicht mit Beschimpfungen, sondern mit einem Lächeln und offenen Armen.
„Es tut mir leid, dass ich vorhin so unfreundlich war“, sagte er. „Jetzt weiß ich, dass Ihr ein echter Zadik seid, sonst wärt Ihr kein drittes Mal gekommen! Ihr denkt nur an die Armen und nie an Euch selbst! Darum gebe ich Euch diesmal nicht einen Rubel, sondern zehn.“
Genau so ging es ihm am nächsten Haus und an allen anderen. Doch als er zu Hause ankam, war er nicht ganz zufrieden. Er gab dem wartenden Mann das Geld und sagte mit gerunzelter Stirn: „Höre, mein Freund, das Geld ist dein. Ich will es nicht zurück haben. Aber sag mir die Wahrheit: Ist deine Frau wirklich krank, und stimmt die Geschichte mit deiner Tochter und deinem Haus?“
Der Mann sträubte sich eine Weile, dann antwortete er kleinlaut: „Rabbi, ich habe wohl etwas übertrieben, aber nicht gelogen. Meine Frau ist schwanger, und in den heiligen Büchern steht, dass das Leben einer Gebärenden bedroht ist. Man darf sogar den Schabbat brechen, um ihr zu helfen.“
„Und was ist mit der Hochzeit deiner Tochter?“
„Nun, sie ist erst fünf Jahre alt, aber ich sage immer: Warum bis zur letzten Minute warten? Und was mein Haus betrifft – nun ja, der Schaukelstuhl, den ein Nachbar meiner Frau geschenkt hat, ist zusammengebrochen, und darum fühle ich mich furchtbar!“ Dann dachte der Besucher kurz nach und sagte: „Sagt mir, Rabbi, woher habt Ihr gewusst, dass ich nicht ganz die Wahrheit sagte, und warum habt Ihr trotzdem Geld gesammelt?“
Rabbi Naftali antwortete schlicht: „Jedes Mal, wenn ich Geld für die Armen sammle, ist das keine leichte Aufgabe, denn es gibt immer ein Hindernis vor der Heiligkeit. Aber dieses Mal, als ich Geld nur für dich sammelte, war es einfach, sogar zu einfach. Ich dachte: Hier stimmt etwas nicht. Offenbar erfülle ich keine Mizwa. Daraus schloss ich, dass du das Geld nicht so dringend brauchst, wie du behauptet hast.“
ב"ה
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