Die dieswöchige Sidra hat die Errichtung und Einrichtung des jüdischen Heiligtums zum Thema. Es ist nicht abwegig, dazu die folgenden Gedanken vorzutragen; denn die Ausführungen laufen in einem Punkt aus, der eine wesentliche Bedingung für den Tempeldienst aufgezeigt und gleichzeitig für eine noch ganz andere Frage von Erheblichkeit ist.

Es ist ein weit verbreiteter Brauch, dass man jeden Morgen, bevor man mit dem Morgengebet anfängt, diese Erklärung abgibt: "Ich nehme hiermit das positive Gebot auf mich, das da lautet: Liebe deinen Nebenmenschen wie dich selbst."

Dazu lassen sich sofort zwei Fragen stellen: Erstens, welche Verbindung besteht denn zwischen dieser Vorschrift und dem Beten, so dass die Vorschrift eine angebrachte Einführung zum Gebet ist? Zweites, wie kann überhaupt von jemandem erwartet werden, dass er einen anderen genauso sehr liebt wie sich selbst?

Eine Antwort ergibt sich auf folgende Weise: Die chassidische Philosophie versteht und betrachtet das gesamte jüdische Volk als einen vollständigen "Körper" und jeden einzelnen Juden als einem der Organe des Körpers entsprechend. Manche entsprechen dem "Kopfe" (zum Beispiel Rabbiner und Gelehrte), andere dem "Leibe", und wieder andere den "Füßen". Jemand, der (zum Beispiel) die Schmerzen eines entzündeten Fußnagels mitmacht, merkt sehr bald, dass ein Schmerz sogar am untersten Teil des Körpers des vollständige Funktionieren des Kopfes beeinträchtigen kann, und zwar deshalb, weil man dann daran gehindert ist, sich ausreichend zu konzentrieren und klar zu denken. Damit wird deutlich gezeigt, dass der Körper mit all seinen Organen und Gliedmassen, ein völlig integriertes System bilden.

Ebenso ist es mit dem "Körper" des Judentums bestellt; ein Versagen der "Füße" kann eine ernstliche Störung für den "Kopf" mit sich bringen. Wir wissen, dass die größten Weisen, die edelsten Menschen, mit allen anderen zusammen das Sündenbekenntnis sagen, ein Gebet, welches Reue für Verfehlungen wie Diebstahl, Gewalttätigkeit usw. zum Ausdruck bringt. Obwohl sie persönlich weit von solchen Sünden entfernt sind, sind sie sich dennoch bewusst, dass sie mit all jenen verknüpft und verkettet sind, die sich so vergangen haben; folglich betrachten sie sich selbst als gleichfalls von diesen Sünden betroffen.

Aufgrund dieser Überlegungen lässt sich verstehen, wie man einen anderen so sehr lieben kann wie sich selbst. Denn das ganze jüdische Volk ist ein absolut integrierter "Körper", und damit dann ist für jeden Juden ein Teil seiner selbst wirksam und lebendig in dem anderen Juden. Wenn er also den Nebenmenschen liebt, dann zeigt er doch in Wirklichkeit eine tiefe Zuneigung zu einem Teil seiner selbst!

Ebenso steht es mit einem, der einen anderen in seinem Herzen hasst: Tatsächlich hasst und verwirft er einen Teil seiner selbst. In einem gewissen Sinne ist er eine verstümmelte Person, und seine Gebete – welche bekanntlich an die Stelle der ehemaligen Tempelopfer getreten sind – sind für G-tt nicht annehmbar, genauso wie im Heiligtum ein angeschlagener oder verstümmelter Kohen (Priester) für das Darbringen irgendwelcher Opfer untauglich war.

Dadurch jedoch lässt sich die Verbindung zwischen Ahawat Jisrael (der Nächstenliebe) und dem Beten verdeutlichen, und das denn ist die Erklärung und der Grund für den Brauch, dass man das Gebot der Nächstenliebe jeden Tag vor dem Beten für sich persönlich auf sich nimmt, damit wir so im Gebet vor dem Ewigen stehen können, nicht durch Hass verunstaltet sondern als eine heile, vollständige Person.