Wenn wir uns zum Beten herrichten, stellen wir uns in Richtung Israel. Wer in Israel lebt, betet in Richtung Jerusalem und in Jerusalem selbst stellt man sich in Richtung Klagemauer, wo einst der Tempel stand. Der Ort des Tempels gilt als „Tor zum Himmel“1 und deshalb steigen die Gebete von dort zu G-tt auf.

Dabei stellt sich die grundlegende Frage: Wir beten doch zu G-tt, Der nicht durch irgendeinen Ort oder jeglicher Zeit begrenzt ist, wie in den Propheten geschrieben steht: Den Himmel und die Erde fülle Ich.2 Außerdem gilt das Gebet als „der Dienst des Herzens“3; das ist ein geistiger Dienst, welcher nicht an einen physischen Ort gebunden ist. Weshalb hängt dann das Gebet mit einem physischen Ort, dem Tempel, zusammen?

Braucht G-tt ein Haus?

Diese Fragstellung betrifft auch unseren Wochenabschnitt, in dem es heißt: Machet mir ein Heiligtum, damit Ich in ihm wohne.4 G-tt gebietet dem jüdischen Volk, Ihm gerade aus irdischen Materialien, wie Gold und Silber, ein Haus zu bauen. Jahrhunderte später legte dann G-tt Sein Haus an einem fixen Ort fest, nämlich Jerusalem. Warum bindet sich der unendliche G-tt an begrenzte, materielle Dinge und einem physischen Ort?!

Tatsächlich kommt dadurch die wahre Größe G-ttes zum Ausdruck, dass Er wirklich unbegrenzt ist und keiner Beschränkung unterliegt! Indem G-tt sich an einem bestimmten Ort bindet, kommt es zur Verbindung des Unbegrenzten mit dem Begrenzten; eine derartige Bindung kann nur durch die wahre Allmacht G-ttes, welche von Seiner innersten Essenz stammt, entstehen.

Größe mit Nachteil

Der Begriff „unbegrenzt“ birgt eigentlich eine gewisse Begrenzung in sich – wer unbegrenzt ist, kann nämlich nicht begrenzt sein. Der Ozean zum Beispiel wird umgangssprachlich auch „unendlich groß“ bezeichnet. Das zeugt zwar von seiner mächtigen Größe, doch wenn der Ozean sich auf die Größe eines Bechers minimieren müsste, zeigt sich seine Grenze. Der große Ozean kann sich nicht auf die Größe eines Bechers verkleinern.

Und darin liegt die wahre Größe G-ttes: Sowohl das Begrenzte, als auch das Unbegrenzte grenzen G-tt nicht ein! G-tt steht über jeglichen Rahmen von Zeit und Raum und kann sich dennoch in Zeit und Raum beschränken. Vor G-tt gibt es wirklich keinerlei Grenzen!

Verbindung von Gegensätzen

Eine derartige Verbindung zwischen dem Begrenzten und dem Unbegrenzten fand im Heiligtum und später im Tempel statt. Das Heiligtum und seine Geräte waren begrenzt; alles hatte seine genauen Maße. Trotzdem sagt der Talmud, dass der Platz der Bundeslade kein Maß hatte.5 Diese Aussage ist zugleich faszinierend wie auch paradox: Die Bundeslade hatte eine von der Thora festgelegten Größe – 2½ Ellen ist seine Länge, 1½ Ellen sein Breite und 1½ Ellen seine Höhe6 (1 Elle sind 48 cm) – und stand im Zentrum eines quadratischen Raums (10 Ellen lang und 10 Ellen breit). Als man die Länge der Bundeslade abmaß, betrug sie 2½ Ellen, doch beim Abmessen des Abstands von einer Wand bis zur naheliegenden Seite der Bundeslade, wie auch des Abstands von der anderen Wand bis zur zweiten Seite der Bundeslade, betrug die Länge jeweils 5 Ellen, als ob die Bundeslade gar nicht im Raum wäre!

Das Begrenzte (das Maß der Bundeslade) und das Unbegrenzte (die Bundeslade an sich nimmt keinen Platz in ihrem Raum ein) verschmolzen im Heiligtum!

Eine Verbindung zwischen Begrenztem und Unbegrenztem soll sich auch im G-ttesdienst des Juden ausdrücken. Einerseits ist das Gebet ein geistiger Dienst, der keine physischen Grenzen hat; andererseits aber soll man in Richtung des Tempels beten. Auch in seinem allgemeinen G-ttesdienst liegt es am Juden, die Präsenz G-ttes nicht nur im Gebet und den Mitzwot zu sehen, sondern G-ttes Heiligkeit auch in die Weltlichkeit zu tragen, denn gerade auf diese Weise entsteht eine Bindung mit der wahren Größe und Essenz G-ttes!

(Likutej Sichot, Band 3, Seite 902)