Letzte Woche lasen wir in der Thora über den Thoraerhalt am Berg Sinai. Im Wochenabschnitt dieser Woche erläutert die Thora, welche Mitzwot wir nun bekommen haben. Die erste Thematik handelt von dem hebräischen Knecht:1 Das war ein Jude, der vom jüdischen Gericht zum Knecht verkauft wurde, weil er gestohlen hatte und das Diebesgut nicht zurückerstatten konnte, oder der sich seiner Armut wegen selbst zum Knecht verkauft hatte.

Es scheint sehr merkwürdig, dass dieses Thema das erste ist, von dem die Thora nach der G-ttesoffenbarung am Sinai spricht. Die Juden wurden gerade von der Sklaverei befreit und hatten viel Vermögen aus Ägypten mitgenommen. Niemand musste sich also zum Knecht verkaufen. Und auch wenn jemand aus Begehr gestohlen hatte, konnte er alles zurückerstatten. Die Gesetze des hebräischen Knechts waren zu jenem Zeitpunkt völlig irrelevant und dennoch wählte die Thora ausgerechnet dieses Thema aus, um es als erstes zu behandeln und nicht etwa praktische Gesetze, wie Feiertage, Opferdienst usw.!?

Klare Sache

Durch die Offenbarung am Sinai wurde es möglich, das Materielle mit dem Spirituellen zu verbinden.2 Fortan waren diese zwei gegensätzlichen Bereiche nicht mehr voneinander abgekapselt. Bei den Gesetzen des hebräischen Knechts kommt diese revolutionäre Idee sehr stark zum Ausdruck. Deshalb knüpfte die Thora gerade dieses Thema als Erstes an die Offenbarung am Sinai.

Eines der Mitzwot beim hebräischen Knecht lautet: Wenn der Knecht nach sechs Jahren Arbeit seinen Herrn nicht verlassen wollte, musste ihm sein rechtes Ohr durchstochen werden. Raschi erklärt dazu: „Dieses Ohr, das am Berg Sinai hörte ‚Du sollst nicht stehlen‘ und trotzdem stahl er, soll durchstochen werden; dieses Ohr, das am Berg Sinai hörte ‚Die Kinder Israels sind Meine Knechte‘ und trotzdem verkaufte er sich einem anderen Herrn, soll durchstochen werden.“3

Bei dieser Mitzwa gibt es eine klare Verbindung zwischen der Sünde und ihrer Strafe; das heißt, die Einwirkung der Thora in dieser Welt ist ganz offensichtlich.

Bei anderen Mitzwot sieht man nicht direkt den Zusammenhang zwischen der Mitzwa und ihrer Konsequenz. Die Thora verspricht zum Beispiel für Elternehre ein langes Leben. Der Zusammenhang zwischen Elternehre und ein langes Leben ist aber nicht offensichtlich. Auch wenn jemand sündigt, trifft ihn die Strafe nicht gleich auf offenkundige Weise. Das Ursache-Konsequenz-Prinzip der Thora bleibt dem Auge verschollen. Doch bei dem hebräischen Knecht ist es eine klare Sache: Die Strafe ist eine direkte Konsequenz der Sünde.

Der Einfluss der Thora

Somit drückt diese Mitzwa am besten aus, welche Veränderung die Offenbarung am Sinai auf der Welt bewirkte: Spiritualität und Materie konnten fortan ineinander verschmelzen. Durch die Offenbarung am Sinai wurde jeder Jude befähigt, aus materiellen Gegenständen etwas Heiliges zu schaffen; G-tt in jeden Teil der Welt zu bringen. Die Welt und die Thora waren nicht mehr zwei verschiedene Dinge, voneinander abgetrennt. Sie wurden aneinandergeknüpft, wodurch die Heiligkeit der Thora auf die materielle Welt einwirken konnte. Jede Mitzwa und jede Sünde hat auch Wirkung auf der materiellen Ebene (und nicht nur auf die Seele). Und sobald ein Jude nach den Gesetzen der Thora lebt, drückt sich das auch in seinen weltlichen Angelegenheiten (wie Gesundheit und Geschäftsleben) aus; und wenn er, G-tt behüte, vom Weg der Thora abweicht, trifft es ihn auch in dieser Welt.

So hat G-tt das System aufgebaut, unabhängig davon, ob es für uns offensichtlich ist oder nicht. Doch er gab uns eine Mitzwa zur Veranschaulichung: beim hebräischen Knecht, bei dem der Schaden an der Seele (durch seine Sünde) auch auf den Körper einwirkte, bis dieser körperliche Schaden allen offenkundig war (da er am Ohr war). Das Ohr sündigte, das Ohr wurde getroffen; der enorme Einfluss der Thora auf die Welt!

(Likutej Sichot, Band 16, Seite 251)