Nachdem das jüdische Volk letzte Woche die Thora erhalten hat, bekommt es in dieser Woche den ersten Unterricht von Mose in Sachen Geboten. Wie lautet das Thema des Unterrichts? – „Mischpatim“, zwischenmenschliche Gebote.

Doch es ist eigenartig, dass die Thora uns unmittelbar nach ihrem Erhalt gerade die so rationalen Gebote mitteilt, die doch jeder schon kennt, als ob die Thora nichts Geheimnisvolleres anzubieten hätte. Die Offenbarung G-ttes am Sinai diente doch dazu eine Bindung zwischen Schöpfer und Mensch ins Leben zu rufen. Ihr Hauptanliegen besteht nicht darin für gute zwischenmenschliche Beziehungen zu sorgen. Das kann die Menschheit wohl selbst.

Tatsächlich aber will die Thora den engen Zusammenhang zwischen der G-ttesoffenbarung am Sinai und den Mischpatim betonen, indem sie das sogar mit dem Bindewort Und (das sind die Vorschriften), mit dem unser Wochenabschnitt beginnt, ausdrückt. „Denn so wie die ersten Gebote vom Sinai stammen, so auch diese“, heißt es in Raschis Kommentar1. Wir sollen also nicht meinen, dass die Mischpatim deshalb zu erfüllen sind, weil sie uns logisch erscheinen. Auch bei diesen liegt es an uns sie zu vollbringen nur der g-ttlichen Aufforderung wegen, eben weil sie vom Sinai stammen!

Wer bestimmt die Logik?

Einer tieferen Erklärung zufolge hat schon die alleinige Tatsache, dass gewisse Gebote mit unserem Verständnis harmonisieren, ihren Ursprung in der G-ttesoffenbarung! Wenn G-tt damals nicht festgelegt hätte, dass z.B. Stehlen verboten sei, wäre für den Menschen bis heute dieser Akt genauso natürlich wie essen und schlafen!

Somit teilen sich die Mizwot in zwei allgemeine Gruppen: Es gibt solche, deren Wesen das menschliche Verständnis überschreiten, und solche, bei denen der g-ttliche Wille sich in den Verständnisbereich des Menschen einpflanzt und der Mensch selbst die Notwendigkeit dieser Gebote einsieht. Diese Einsicht aber ist auch g-ttgegeben. Da doch die Thora der Bauplan der Welt ist und G-tt in ihr festlegte, dass der Sinn gewisser Gebote verständlich sei, wurde der Mensch schon nach diesen Kriterien von Anfang an konstruiert.

Der zivilisierte G-tt

Aber nicht nur das jüdische Volk hat die Mischpatim auf eine solche Weise zu erfüllen. Selbst Nichtjuden, die „Söhne Noachs“, sollen ihre „Sieben Noachidischen Gebote“ (welche großteils auf zwischenmenschlichem Niveau stehen) vor allem deswegen einhalten, weil sie g-ttgegeben sind. „Da G-tt sie ihnen in Seiner Thora befohlen hatte“, schreibt Rambam und fügt hinzu: „Aber wer sie aus eigener Einsicht erfüllt, zählt nicht zu den Gerechten der Welt und hat keinen Anteil an der künftigen Welt!“2

Das Fundament des Judentums

Auf diesem Grundsatz baut das gesamte Judentum auf. Alle unsere Handlungen müssen an den g-ttlichen Willen gebunden sein! Nicht unser Verständnis soll im Mittelpunkt stehen, sondern der Wille G-ttes, welcher unseren Verstand zu formen hat! Der Unterschied zwischen den „Chukim“ (Geboten, die wir nicht begreifen) und den Mischpatim besteht nur darin, dass bei den ersteren der Erfüllende sein Verständnis völlig beiseite legt und sich dem Willen G-ttes vollkommen hingibt, bei den Mischpatim aber er sehr wohl die Logik des Gebots verstehen soll, doch mit der Erkenntnis, dass selbst dieses Verständnis vom Schöpfer entspringt.

Von der perfekten Kombination zwischen dem Willen G-ttes und dem irdischen Verständnis erfahren wir zur vollkommenen Erlösung, aber schon heute sind wir Zeugen von anfänglichen Zeichen; als nämlich die Nationen der Welt ihres Verständnisses wegen beschlossen gegen Kriege anzukämpfen und deren Waffen für friedliche Zwecke zu gebrauchen, gravierten sie auf das UNO-Gebäude den Vers aus dem Prophetenbuch Jeschaja: Und sie werden stumpf machen ihre Schwerter zu Sicheln3, als Ausdruck dafür, dass die Kraft das Zerstören zu beenden und Frieden zu schaffen einem Vers der Thora entspringt – eben vom Sinai!

(Sefer haSichot, Jahrgang 5752, Band 2, Seite 366)