Die Einwohner von Sedom und Amora versündigten sich sehr gegen G-tt, bis Er entschied, sie zu vernichten. Als Er dies Awraham mitteilte, versuchte jener alles zu tun, um dieses Unheil abzuwenden. Darüber erzählt unser Wochenabschnitt: Und Awraham trat hin und sprach: Willst Du denn wirklich den Gerechten mit dem Frevler vernichten?!1

Was meint die Thora mit „trat hin“? Awraham stand doch schon vor G-tt, wie im Vers zuvor steht: Und Awraham stand noch vor G-tt.2 Deshalb erklärt Raschi „trat hin“ auf folgende Weise: „Wir finden in den Schriften mehrere Bedeutungen für ‚Hintreten‘: zum Kampf, zur Besänftigung und zum Gebet. Und zu all diesem trat Awraham hin – harte Worte zu sprechen, zu besänftigen und zu beten.“

Warum harte Worte?

Mit den Worten „Und Awraham trat hin“ möchte uns also die Thora vermitteln, dass Awraham sich in einen sehr angespannten seelischen Zustand gebracht hatte. Er war seelisch bereit, mit G-tt anders zu sprechen als sonst: auf harte Weise.

Bekanntlich galt Awraham als sehr gütiger und gnädiger Mensch. In den Schriften wird er „Awraham, mein Liebster“3 genannt, denn er war zu jedem liebevoll. Es passt nicht zu dem Charakter Awrahams, mit jemandem hart zu reden, sicher nicht gegen G-tt! Dennoch erfahren wir in unserem Wochenabschnitt das Gegenteil. Und nicht nur, dass er mit G-tt hart redete (Willst Du denn wirklich den Gerechten mit dem Frevler vernichten), sondern von den drei Dingen, dir er zu tun gedachte (harte Worte zu sprechen, zu besänftigen und zu beten), begann er ausgerechnet mit den harten Worten. Dieses Verhalten war ein gänzlicher Bruch mit seinem Charakter!

Gewissen über Neigung

Darin sehen wir die wahre Größe von Awraham. Es gibt Menschen, die von Natur aus gutmütig sind und ihr dementsprechendes Verhalten resultiert von ihren natürlichen Eigenschaften. Doch die Besonderheit Awrahams war, dass er so sehr an sich gearbeitet hatte, bis seine Gutmütigkeit nicht mehr seiner Natur entsprang, sondern weil dies sein Weg war, G-tt zu dienen. Er stellte sein ganzes Wesen in den Dienst G-ttes, selbst seine Eigenschaften und seinen Charakter. Als er es deshalb für notwendig erachtete, sich auf andere Weise, ja sogar auf entgegengesetzter Weise, zu verhalten, als üblich, tat er dies mit derselben Hingabe.

Normalerweise ist es einem Menschen, der in seinem Charakter gütig ist, fast unmöglich, auf einmal streng zu sein, da er von seiner Natur geleitet wird. Aber nicht Awraham: Denn nicht seine Natur schrieb ihm sein Verhalten vor, sondern er war ihrer Herr und er richtete sich einzig und allein danach, welche Vorgehensweise für den Dienst an G-tt notwendig war und passte seinen Charakter ohne zu zögern dafür an.

Vorbildlich

Als deshalb Awraham bei den Einwohnern von Sedom und Amorah erkannte, dass es um Leben und Tod ging und er keine andere Wahl sah, als von G-tt zu fordern sie zu verschonen (harte Worte zu sprechen), zögerte er keinen Moment und überwand sogar seinen üblich gutmütigen Charakter, in der Hoffnung, dadurch die Einwohner Sedoms und Amorahs zu retten.

Der Midrasch sagt: „Die Taten unserer Vorväter sind uns ein Vorbild.“4 Von Awraham lernen wir: Unsere guten Charakterzüge sollen nicht unseren natürlichen Neigungen entspringen, sondern aus der Erkenntnis, dass sie richtig sind. Sobald unser Gewissen unsere Eigenschaften leitet, können wir sie, wenn es sein muss, umstellen (z.B. von gütig auf streng).

Außerdem lernen wir von Awraham, dass wenn es darum geht, eine jüdische Seele zu retten (indem sie zu G-tt näher gebracht wird), wir nicht zögern und Überlegungen anstellen dürfen (ob es sich auszahlt oder nicht), sondern alles in Bewegung setzen müssen und sogar bei Notwendigkeit unsere üblichen Eigenschaften überwinden sollen (wie z.B. Bequemlichkeit, Trägheit, Schamgefühl, Gutmütigkeit usw.), um die Seele eines jeden einzelnen Juden zu retten!

(Likutej Sichot, Band 10, Seite 55)