Der Pausenton erklang und die fünfte Klasse eilte in Richtung Schulhof.
"Chani," rief Lehrerin Rosen, "kommst du bitte für einen Moment zu mir ans Pult, ich möchte mit dir sprechen."
Chani drehte sich um und ging hinüber zu ihrer Lehrerin. "Schevi," sagte sie dabei noch zu ihrer Freundin, "siehe bitte zu, dass ich in eine der Machanajim-Gruppen gewählt werde. Ich werde dann zu euch stoßen, sobald ich mit Lehrerin Rosen gesprochen habe." Dann fügte sie jedoch noch zu, "und schau bitte auch, dass Nadia ebenfalls in eine Gruppe kommt."
Lehrerin Rosen wartete bis alle anderen Mädchen den Klassenraum verlassen haben. "Chani, ich möchte dir ein Lob dafür aussprechen, dass du dich so rührend um Nadia kümmerst. Du beweist hiermit ein großes Maß an Ahawat Israel (Nächstenliebe). Die Lebensumstände sind hier so verschieden von denen in Russland und du hilfst Nadia sehr dabei, sich in einem neuen Land schnell zuhause zu fühlen."
Chani lächelte verlegen. Sie versuchte tatsächlich alles, um dem neuen Mädchen in der Klasse zu helfen, und natürlich freute sie sich über das Lob der Lehrerin. So gab sie beispielsweise einige ihrer gewohnten Aktivitäten auf, um Nadia bei den Hausaufgaben zu helfen. Auch lud sie Nadia öfter als gewohnt zu sich über Schabbat ein.
"Obwohl ich wirklich sehr schätze, was du alles für Nadia tust, möchte ich dir dennoch etwas darüber beibringen, wie man jemanden wirklich hilft," fuhr die Lehrerin fort.
Chani schaute ihre Lehrerin fragend an, "was meinen Sie damit, Lehrerin Rosen? Ich habe wirklich versucht mein Bestes zu geben. Ich habe versucht, ihr in jeder erdenklichen Weise zu helfen. Letzte Woche beispielsweise habe ich Nadia sogar meine Antworten zu den Fragen über die Propheten abschreiben lassen."
Lehrerin Rosen streichelte über Chani's Kopf. "Natürlich versuchst du dein Bestes, aber die Antworten bezüglich der Propheten betreffen genau das, worüber ich mit dir sprechen möchte. Gerade in der dieswöchigen Parascha können wir hierüber etwas lernen."
Chani verstand nicht. "Was hat Paraschat Behaalotecha damit zu tun, Nadia helfen zu wollen?" wunderte sie sich.
"Nun," fuhr Lehrerin Rosen fort, "die Parascha beginnt mit der Mitzwa, die Menora im Tempel anzuzünden. Doch die Tora verwendet hierfür nicht den Begriff für 'anzünden'. Stattdessen wird das Wort 'Behaalotecha' gewählt, was soviel wie 'wenn du erhebst' bedeutet. Raschi erklärt uns diesbezüglich, dass wir daraus die Lehre ziehen können, den Docht solange zünden zu müssen, bis er von schließlich von selbst brennt."
"Ich glaube, ich verstehe, was Raschi sagen will," erwiderte Chani, "manchmal, wenn ich die Schabbat-Kerzen zünde, brennt der Docht nicht gleich auf Anhieb. Ich muss dann den Docht länger mit dem Streichholz berühren, bis er endlich von selber brennt."
"Genau!" bestätigte Lehrerin Rosen, "und hiervon können wir lernen, dass wenn wir anderen helfen wollen, wir unser Bestes geben sollen, sie dabei so anzuleiten, dass sie schließlich nicht mehr auf fremde Hilfe angewiesen sind und die Dinge von selbst beherrschen - auch wenn diese Art von Hilfe viel mehr Zeit und Anstrengung in Anspruch nimmt."
Chani nickte zustimmend. "Ich verstehe. Wenn ich Nadia wirklich helfen will, sollte ich sie nicht einfach meine Antworten abschreiben lassen. Ich sollte ihr vielmehr geduldig die Fragestellung erklären, bis sie diese versteht und von alleine auf die Antwort kommt."
Lehrerin Rosen lächelte und klopfte Chani auf den Rücken. "Mit Streichhölzern wie dich, Chani, werden wir sicher sehr bald die Menora im dritten Tempel entzünden können!"
(Übersetzt aus "Please Tell Me What the Rebbe Said, Vol. I", basierend auf Sichot Schabbat Behaalotecha, 5750)
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