Zur Zeit des Tempels stand zu Jom Kippur der G-ttesdienst des Hohen Priesters im Mittelpunkt. Dies war das einzige Mal im Jahr, an welchem der Hohe Priester in das Allerheiligste treten durfte um dort seinen Dienst zu verrichten. In seinem Gesetzesbuch schreibt Rambam, dass mit Ausgang des Jom Kippur, nachdem der Hohe Priester seinen Dienst vollendet hatte, man ihn nach Hause begleitete und jener Tag für ihn und seine Familie ein Freudentag war, da er in Frieden aus dem Allerheiligsten getreten war.1

Einfach erklärt, galt für den Hohen Priester jener Tag als Freudentag, da er den G-ttesdienst schadlos überstanden hatte. Denn der Aufenthalt im Allerheiligsten konnte lebensgefährlich sein. Hohe Priester, welche nicht die notwendige seelische Reinheit dafür hatten, sind dort auf der Stelle gestorben. Deshalb, wenn der Hohe Priester unbeschadet aus dem Heiligtum getreten war, feierte er dieses Ereignis mit seiner Familie.

Privat

Dieser Anlass zur Freude für den Hohen Priester und seine Familie ist eine private Angelegenheit, welche mit dem Tempeldienst zu Jom Kippur an sich nichts zu tun hat. Aus welchem Grund also erwähnt Rambam ein privates Fest des Hohen Priesters in einem Buch, das nur Gesetze behandelt? Welches Gesetz, welche Anweisung lernt man daraus?

Die Antwort darauf liegt in der Betonung der Thora, dass ein Hoher Priester verheiratet sein und in seinen Gebeten unbedingt auch sein „Heim“, d.h. seine Frau2, mit einbeziehen muss. Zwar hat er sich einige Tage vor Jom Kippur von seiner Frau zu distanzieren, um sich von den Genüssen dieser Welt abzuschirmen, doch während des Tempeldienstes zu Jom Kippur ist er verpflichtet an seine Frau zu denken, und gleich am Jom Kippur-Ausgang kehrt er in sein Heim zurück.

Harmonisieren

Das sind zwei Gegensätze, die der Hohe Priester verbindet. Einerseits ist es das allerhöchste spirituelle Erlebnis, welches der Hohe Priester erfährt, wenn er in das Allerheiligste eintritt. Doch gleichzeitig liegt der Sinn dieses geistigen Aufstiegs nicht darin in einem Zustand der Absonderung vom Weltlichen zu verbleiben, sondern diese hohe Heiligkeit in das alltägliche Leben hinein zu tragen. Denn das ist der Sinn des Tempeldienstes zu Jom Kippur – das Spirituelle in den Alltag mit einzubinden.

Aus diesem Grund hatte der Hohe Priester beim Erreichen der allerhöchsten Heiligkeitsstufe am Jom Kippur-Ausgang in sein Heim zurückzukehren, zu essen und zu trinken. Das war ein Ausdruck dafür, dass das Geistige, wie erhaben es auch sein mag, in das Weltliche einfließen muss.

Nun ist auch verständlich, weshalb dies Rambam in seinem Gesetzesbuch anführt. Denn das Geistliche mit dem Weltlichen zu verbinden ist unentbehrlicher Teil des Tempeldienstes zu Jom Kippur und sogar sein Sinn und Zweck.

Das Gesetz für jeden

Das ist auch eine Anweisung an jeden Menschen. Das Judentum ist kein Mönchstum, sondern bringt vielmehr das Geistliche mit dem Profanen auf eine harmonievolle Weise zusammen. Deshalb beinhaltet jede jüdisch-religiöse Feier Essen und Trank und oft sogar Alkohol (der Segen mit dem Kiddusch). Es besteht die Pflicht zu arbeiten, heiraten und Kinder auf die Welt zu setzen, und all dies im Einklang mit dem g-ttlichen Gesetz. In einem breiteren Sinn lernen wir auch aus Rambams Schilderung des Freudenfests des Hohen Priesters am Jom Kippur-Ausgang, dass der Mensch sein geistiges Potenzial (Geist) in die Tat (Materie) umzusetzen hat; d.h. es reicht nicht aus gute Ideen zu haben, über Anständigkeit zu sprechen und philosophisch begabt zu sein, solange all das auf der Ebene des Geistigen bleibt. Das geistige Potenzial des Menschen muss praktisch seinen Ausdruck finden; Gelerntes ist in die Tat umzusetzen.

Tatsächlich liegt darin der Sinn der Schöpfung, denn der Midrasch erklärt3, dass G-tt Seinen Hauptwohnsitz auf dieser Welt haben will. Dies wird bewirkt, indem man das Heilige und Spirituelle mit dem Weltlichen kombiniert, und das ist der allerhöchste G-ttesdienst!

(Likutej Sichot, Band 32, Seite 106)