Lieber Leser,
die Sidra Mischpatim ("Rechtssachen") beginnt mit Gesetzen, welche die menschlichen Beziehungen regeln, die persönlichen wie die sozialen. Dabei ist zu beachten, dass diese Sidra unmittelbar auf die Sidra Jitro folgt, in der die menschlichen Pflichten G-tt gegenüber betont werden (in Jitro steht die Offenbarung der Tora, wobei das erste der Zehn Gebote "Ich bin G-tt, dein G-tt" ist – Exodus 20, 2). Mehr noch: der letzte Absatz von Jitro, unmittelbar vor und neben Mischpatim, behandelt Gesetze über den Altar. Unsere Weisen (Schmot Rabba, zitiert von Raschi zu Exodus 21, 1) untersuchen die Bedeutung diese Reihenfolge. Sie fragen: "Aus welchem Grunde folgt der Abschnitt Mischpatim sogleich auf den über den Altar?" Und sie antworten: "Um uns einzuschärfen, dass das Sanhedrin (das ist der Gerichtshof, der über Streitigkeiten zwischen einem Menschen und seinem Nebenmenschen urteilt) seine Sitzungen nahe dem Altar (der des Menschen Verpflichtungen zu G-tt symbolisiert) abhalten soll.
Damit wird eine grundsätzliche Idee betont: In der Sphäre der zwischenmenschlichen Beziehungen, sei es in Bezug auf die Einzelperson oder die Gruppe, ist es eitel, sich auf bloße "intuitive" Gefühle von Gerechtigkeit und Billigkeit zu verlassen – wie bittere Erfahrungen zur Genüge bewiesen haben. Welches sittliche System kann auf die Dauer in dem täglichen Nebeneinander von Individuen und Gruppen bestehen? – Nur ein System von Sittlichkeit und Recht, dessen Gesetze ihre zwingende, unabweisbare Autorität von einer übermenschlichen Quelle ableiten, nämlich dem Schöpfer des Menschen, dem Schöpfer des Alls. Denn einzig der Schöpfer kennt vollständig die menschliche Natur, mit all ihren Schwächen; daher kann allein der Schöpfer wahre und dauerhafte sittliche Gesetze vorschreiben, sowohl für den Einzelmenschen wie für die Gesellschaft als solche; nur die Gesetze, die ihre Wahrheit und ihre Autorität von dem Höchsten Wesen ableiten, sind für jedermann auf ewig und unfraglich bindend, ohne Rücksicht auf Zeit und Ort.
Schabbat Schalom