Das alltägliche Niveau von Moral und der Mores unserer Zeit, wie es sich allzu oft in sehr hässlicher, abstoßender Weise abzeichnet, dürfte hinlänglich bekannt sein; tatsächlich sollte man ihm nicht einmal die „Ehre“ erweisen, es einer näheren Beschreibung zu würdigen. Der direkte Eindruck via Augen und Ohren, sowie auch die Überbetonung, die derlei Dinge in den Medien erfahren, dürften allein schon dazu angetan sein, den Stand der Dinge klar zu machen.
Gleichzeitig und ebenfalls sollte sich eine ständige Wiederholung der gegenteiligen Charaktermerkmale erübrigen, die sich daraus ergeben, dass das Judentum, als Religion und Weltanschauung, Sauberkeit und Anstand in allen Lagen und unter allen Umständen zur anzustrebenden Norm erhebt. Manchmal aber ist es gut, die Theorie durch ein konkretes Beispiel zu verdeutlichen. Eine solche Gelegenheit bietet sich augenblicklich, anlässlich des Datums des 15. Aw im jüdischen Kalender, eines in alten Zeiten hervorragenden Fest- und Feiertages, an dem ganz vorzüglich eine große Sittenreinheit, ja Heiligkeit im Verhältnis zwischen Frauen und Männern zum Ausdruck kommt.
Vielen wird die betreffende Quelle in Mischna und Talmud1 geläufig sein, wo Rabban Schimeon ben Gamliel die folgende Erklärung abgibt:
Der Gang in den Weinberg
„Es gab keine größeren Festtage in Israel als den 15. Aw und den Jom HaKippurim. Denn an ihnen pflegten die Töchter Jerusalems ins Freie zu gehen, in weißen Kleidern, die geliehen waren, um nicht diejenigen zu beschämen, die keine besaßen; und all diese Kleider mussten vorher rituell gereinigt sein. Die Töchter Jerusalems also gingen hinaus in die Weinberge und tanzten; und was war es, dass sie sagten? Junger Mann, erhebe deine Augen und sieh zu, was du dir wählst. Richte dein Auge nicht auf Schönheit, richte dein Auge auf die Familie (die Herkunft)“. Wie es heißt2: „Falsch ist die Anmut und eitel die Schönheit; eine G-ttesfürchtige Frau ist es, die zu loben ist.“ Und ferner3: „Geht ihr von den Früchten ihrer Hände (Werk), dann werden in den Toren ihre Taten sie loben.“ Und so heißt es auch4: „Geht hinaus und schauet, ihr Töchter Zions, auf den König Schlomo, in der Krone, mit der ihn seine Mutter gekrönt hat, am Tage seiner Hochzeit und am Tage der Freude seines Herzens.“
Dann, zum Abschluss, erläutert Rabban Schimeon ben Gamliel: „Am Tage seiner Hochzeit – das ist der Tag der Offenbarung der Tora; und am Tage der Freude seines Herzens – das ist die Wiedererbauung des Heiligtums, möge es bald in unseren Tagen errichtet werden. Amen.“
Warum diese beiden Tage, der 15. Aw und der Versöhnungstag, diese besondere Stellung einnehmen, wird in den Quellen ausführlich erklärt: An diesen beiden Daten haben sich in der jüdischen Geschichte eine Reihe von herzerfrischenden und auch herzergreifenden Dingen zugetragen, die sehr wesentlich dazu angetan sind, das Gemüt, das gesamte Innenleben des jüdischen Menschen anzusprechen. Der Talmud zum Beispiel5 zählt sie auf; und dort können sie leicht zur Kenntnis genommen werden. Worauf es uns hier eher ankommen muss, ist diese Frage, die auf dem fußen muss, was eingangs oben bemerkt worden ist: Was ist denn das für eine Art und Weise, wenn jüdische Mädchen, in aller Öffentlichkeit, sich vor jungen, unverheirateten Burschen präsentieren und diesen, sozusagen, ihre Vorzüge anbieten? Ist das Züchtigkeit und Anstand?
Unverblümte Fragen und Antworten
Diese Frage ist absichtlich in so starken, fast extremen Worten formuliert worden, damit die Antwort ebenso unverblümt gegeben werden kann. Denn die Antwort lautet: Jawohl, das ist züchtig, das ist jüdisch, im hervorragendsten Sinne des Wortes. „Geh hin und lerne“, schreibt Eliahu Ki Top6, „wie bedeutungsvoll diese beiden Tage gerade nach der Definition von Reinheit und Heiligkeit waren. Denn an allen anderen festlichen Tagen pflegten rabbinische Abgesandte zu den Plätzen zu reisen, an denen die Leute sich versammelten, um dort scharf darauf zu achten, dass jedes leichtsinnige Gebaren zwischen Männern und Frauen verhütet wurde. Aber an diesen beiden Feiertagen war das nicht nötig; denn an ihnen war ganz Israel ohnehin darauf bedacht, von sich aus und von selbst sich an die Begrenzungen von Reinheit, Anstand und Heiligkeit zu halten, weil die Heiligkeit dieser beiden Tage in so überragender Weise sich auf sie einprägte.“
Die Meinung des Lubawitscher Rebben
In einer speziellen und detaillierten Betrachtung zum 15. Aw, veröffentlicht 1979, erläutert der Lubawitscher Rebbe, Rabbi Menachem M. Schneerson s.A., sehr eingehend und im einzelnen, worin sich diese besondere Stellung der beiden genannten Tage – hier in erster Linie, seinem gewählten Thema gemäß, des 15. Aw – manifestiert. Sachdienliche Auszüge aus diesem bemerkenswerten Aufsatz folgen hier:
„Es ist unverkennbar“, so schreibt er, „dass jenes ‚Hinausgehen’ der Töchter Jerusalems einzig eine Angelegenheit von Heiligkeit gewesen ist; und so ist gleichfalls unverkennbar, dass es überhaupt nicht ihre Absicht war, ihre physischen Vorzüge (wie Schönheit oder Reichtum) zur Schau zu stellen, sondern lediglich jene Vorzüge, die – auf dem Boden von Tora – sich als wahrster und bester Grund für Verlobung und Heirat erweisen.“
Zur Erhärtung dieser These weist der Rebbe auf die unterschiedlichen Ausdrücke hin, die die oben zitierte Mischna für Sehen und Betrachten benutzt: Erst sagen die Töchter Jerusalems dort: „Junger Mann, erhebe deine Augen und sieh zu...“, und dann: „Richte dein Auge nicht auf...“ Das eine ist nicht dasselbe wie das andere. Der Verfasser wörtlich: „Man soll nicht auf Attribute schauen (ganz gleich. ob es sich um seelische oder physische Attribute handelt), die man mit den gewöhnlichen Augen sehen kann (also: ‚Richte dein Auge nicht auf Schönheit’, im weitesten Sinne von ‚Schönheit’), sondern es soll sich um ‚Erhebe dein Auge und sieh’ handeln, im Sinne des Verses7: ‚Erhebt zu den Höhen eure Augen’, das ist: Befleißigt euch eines höheren und eines verinnerlichten ‚Blickens’.“
Das allerdings bedeutet und verlangt das Engagement des Seelenlebans selbst, nicht des bloß optischen Eindruckes, wie er durch die Linse im Aug vermittelt wird, sondern es ist der „innere Blick“, das heißt: nichts anderes als das wahre Verständnis dessen, was wesentlich ist. Das dann ist es auch, was die Mischna, den weiteren Erklärungen des Rebben zufolge, mit ihrer Betonung von „Familie“ (also: von „Herkunft“) eigentlich meint: Die Lehrer und Erzieher, wie sie die jüdische Lehre getreu vermitteln, sie sind es, die hier im eigentlichsten Sinne als „Familie“ bezeichnet werden; und dieses Wort „Familie“ ist am Ende dann ein Name für das ganze jüdische Volk, wie es in seiner Wahrheit und Reinheit weiterbesteht8.
Der Geist des Judentums
Es ist dieser „Geist des Judentums“, unverfälscht und unbeschmutzt. wie er sich in jenem Idyll von den Tänzen der Mädchen in Jerusalems Weinbergen vorstellt, der gerade diesem 15. Aw sein so außerordentliches Gepräge gibt. Deshalb eben mussten die Kleider weiß sein, deshalb auch rituell gereinigt; und ganz besonders wichtig war es, dass keines der Mädchen seine eigenen Gewänder trug: Sie leihten sie unter sich aus, in den Worten des Talmud9, „Die Tochter des Königs von der Tochter des Hohenpriesters, diese wieder von der Tochter des Stellvertreters des Hohenpriesters“, und so die ganze Stufenreihe entlang, damit keine sich vor den andern nach außen hin – nämlich in ihrer Kleidung – auszeichnete. Die wahre Auszeichnung war die innerliche allein.
Vom 15. Aw ab nehmen, in unseren Breiten, die hellen Stunden des Tages wieder ab, die Nächte werden länger. Die langen Nächte des Winters stehen in Aussicht. Da denn ist es passend, sogar erforderlich10, dass man nicht nur bei Tageslicht die Tora lernt, sondern dass das Lernen auch auf die Nachtstunden ausgedehnt wird. Denn die eigentliche „Familie“, der beste „Jichus“, ist – wie oben zitiert – die Abstammung aus der Tora-Tradition, die enge Beziehung des Schülers zu seinem Lehrer.
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