I. Die kosmischen Wurzeln der Ehe

Wenn Mann und Frau sich durch die Ehe vereinen, schöpft diese Verbindung ihre Existenz aus jener der Erschaffung der Welt zugrundeliegenden kosmischen Ehe: die Paarung der G-ttlichen Energien, die in männlicher und weiblicher Form vorhanden sind, vom ewigen Licht von G-tt hervorgehen, um das Leben, die Welt und all ihre Daseinsformen zu erzeugen.

Der "Seder Hischtalschelut" (in der Kabbala der Plan des spirituellen Unterbaues der Schöpfung) wird durch eine Dynamik männlicher und weiblicher Faktoren geprägt: Männliche "Lichter" (Orot) vereinigen sich mit weiblichen "Gefäßen" (Kelim), männliche "Weisheit" (Chochma) vereinigt sich mit weiblichem "Verstand" (Bina), männliche "Heiligkeit" (Keduscha) vereinigt sich mit weiblicher "G-ttlicher Gegenwart" (Schechina). Auf jedem Niveau vereinigen sich männliche und weibliche Energien, um das nächste Kettenglied der spirituellen Welten zu gebären, aus der die G'ttliche Lebenskraft in unsere Welt strömt.

Diese männlich-weibliche Triebkraft durchdringt jede Ebene der Existenz: die Beziehung zwischen Geist und Sache, Himmel und Erde, G-tt und dem Volk Israels, der geschriebenen Tora und der mündlichen Tora, dem jüdischen Volk und dem Schabbat, zwischen Körper und Seele, Herz und Verstand. Dies sind Beispiele dafür, wie aus der Ehe zwischen entgegengesetzten Mächten auf allen Ebenen Leben entsteht.

Die Bedeutung dieses Zusammenwirkens ist zweifach: Einerseits sehen wir unsere eigenen Verbindungen als bildlichen Ausdruck, der es uns erlaubt, die G-ttliche Realität besser zu verstehen, - wie geschrieben steht: "Von meinem Fleisch (mittels meines Fleisches) erkenne ich G-tt" (Hiob 19:26). Und eben weil wir wissen, dass die Ehe zwischen Menschen von der kosmischen Verbindung zwischen G-tt und der Schöpfung stammt, ermöglicht uns andererseits das Studieren der mystischen Texte, die sich intensiv mit diesem G-ttlichen Prozess befassen, die Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern besser zu verstehen. Wir lernen, die gegenseitigen Differenzen zu überbrücken, bessere Ehepartner zu werden und das gewaltige in der Ehe steckende Potential zu verwirklichen.


II. Eins werden

In der ersten menschlichen Ehe wurden Adam und Eva als "ein einziger Körper mit zwei Gesichtern" erschaffen. Dieser einzige Körper wurde entzweit – in einen Mann und in eine Frau. Damit war der Kern sexueller Anziehung geboren: Eine primäre Erinnerung an das ursprüngliche Eins-Sein, dem das Fremd-Sein, das Anders-Sein und die Unstimmigkeit gegenüber stehen. Wie jeder Bräutigam, so war auch Adam vorerst besorgt, diejenige zu finden, die auch wirklich zu ihm passt. Sobald er verheiratet war, sah er das Licht: "Das ist es!" rief er begeistert, "Knochen meines Knochens, Fleisch meines Fleisches [...]. Daher wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und sich an seine Frau klammern, und sie sollen ein Fleisch werden."

Dieser Prozess der Trennung und Entfremdung und der darauffolgenden Wiedervereinigung wird durch die Heirat wieder in Szene gesetzt: Eine Seele, welche entzweit wurde, befindet sich in zwei verschiedenen Körpern. Die Anziehung zwischen den beiden Geschlechtern ist die direkte Konsequenz des tiefen Sehnens der Seele nach Wiedervereinigung mit der schon lange vermissten (besseren) Hälfte, - eine Leistung, die durch die Chuppa (Traubaldachin) vollbracht wird.

Der Kern der Ehe ist es, Eins zu werden. Wären Mann und Frau das "einheitliche Wesen" ("die Siamesischen Zwillinge") geblieben, was sie am Anfang waren, so gäbe es keine Entfremdung, keine rätselhaften Geheimnisse, keine Wiedervereinigung, keine Ehe. Wären sie von Anfang an als zwei verschiedene Wesen erschaffen worden, würden die Unterschiede zwischen ihnen unüberwindbar sein, so dass sie niemals eins werden könnten. Es ist ihr wirkliches, inneres Eins-Sein, gepaart mit ihren angelernten, individuellen Unterschieden, welche das Geheimnis der Ehe, der Schöpfung und des Lebens darstellen.


III. Liebe

Liebe ist ein aus vielen einzelnen Widersprüchen bestehender Widerspruch.

Liebe ist die selbstloseste, - aber weil sie so unentbehrlich ist, - auch die selbstsüchtigste aller Gefühlsregungen, die aufopferungsvollste aber auch erfüllendste, die ruchniusdikste (spirituellste) aber auch die gaschmiusdikste (physischste), die natürlichste aber auch die unlogischste. Die Quelle unserer größten Vergnügen, aber auch unserer tiefsten Qualen.

Wir nennen sie eine "Emotion", doch die Liebe ist viel mehr als nur eine Gefühlsregung. Auf wissenschaftlichem Gebiet ist ein Geber-Empfänger–Ausgleich die arithmetische Basis der Schöpfung. Doch die Regeln der Liebe entsprechen nicht denen der Mathematik: Eins plus eins ergibt in der Liebe niemals zwei, sondern in der Liebe ergibt eins plus eins stets eins, oder auch drei.

Der Schlüssel zur Liebe ist Selbstlosigkeit und Erfüllung, die diese mit sich bringt. So widersprüchlich das auch klingen mag, der selbstbesessene, egoistische Mensch kann kein größeres Glück finden, als sich jemandem hinzugeben und seinen Verpflichtungen nachzukommen.

Und der Grund dazu? Die Seele. Die Selbstlosigkeit der Seele ist ebenso groß, wie die Selbstsüchtigkeit des Körpers.

Vielleicht ist die Fähigkeit zu lieben der Teil unseres Lebens, mit dem sich die Lehren der Kabbala am tiefgründigsten befassen. Je mehr ein Mensch mit seiner Seele im Einklang ist, desto größer wird seine Fähigkeit zur reinen Liebe sein, frei von jeglichen verborgenen Hintergedanken und Egoismus.

Liebe ist die Sprache der Seele. Wenn wir sie nicht verstehen, können wir nicht in ihr kommunizieren. Die Kabbala lehrt uns die Sprache der Seele, die es uns ermöglicht, ihre grenzenlose Fähigkeit zu lieben, zum Ausdruck zu bringen.


IV. Intimität

Schauen Sie sich die Welt aus der Nähe und aus jedem Winkel an, beobachten Sie jede einzelne Zelle, und Sie werden immer wieder dasselbe Motiv antreffen: Zwei Gegensätze in Spaltung und in Verschmelzung, die sich trennen und wiedervereinigen, um Veränderung, Bewegung und Leben auf die Welt zu bringen: Kern und Peripherie, positiv und negativ, Ordnung und Chaos, Leben und Tod, Geist und Körper, Selbst und Andere ... Werden wir uns wohl jemals genug darüber wundern, wie diese Gegensätze eine prachtvolle Welt auf die Beine stellen?

Wenn wir den Kern dieses Paradoxes fänden und sein Geheimnis kennen würden, könnten wir die ganze Realität steuern. Wir könnten das Leben so schön gestalten wie wir es uns schon immer gewünscht haben.

Wo steckt dieser Kern? Die Kabbalisten sagen uns, dass er in der physischen und der spirituellen Harmonie zwischen Mann und Frau zu finden ist. Wenn die Vereinigung sich unter den ihr gebührenden Bedingungen abspielt, mit den entsprechenden Vorbereitungen und der gedankenvollen Achtsamkeit, dann strömen ihre Wellen bis ins Wesen unserer Wirklichkeit. Ihr Einfluss reicht in alle Dimensionen des Kosmos, kein Winkel bleibt unberührt, keiner bleibt unverändert. Wie jede Stimme des Orchesters in Einklang auf das Spiel des Solisten antwortet, so antworten auch Umgebung und Kosmos auf das harmonische Zusammenleben zwischen Mann und Frau.

Nichts ist heiliger als diese Vereinigung, die wahre Quelle des Lebens selbst, und nichts ist von größerer Wichtigkeit, um unsere Aufgabe hier in dieser Welt zu erfüllen. Das ganze Leben und die ganze Existenz dieser Welt hängt von dieser Harmonie ab, welche in unserer Hand und unserem Herzen liegt. Gerade darum stellt dieses Gebiet für die meisten von uns die größte Herausforderung dar, - gemäss dem Prinzip, dass an der Stelle, wo ein großer Schatz verborgen liegt, auch die Schwierigkeiten dementsprechend groß sind.