An Jom Kippur rezitierte mein Vater, Rabbi Mosche Greenberg, sorgfältig alle Jom Kippur Gebete – außer dem Gebet, das oft als das Feierlichste gilt: Kol Nidre.

Er war zwanzig Jahre alt und in einem sowjetischen Arbeitslager in Sibirien gefangen. Sein Verbrechen: Er hatte aus Russland fliehen wollen.

Er träumte davon, dass Land zu verlassen und nach Israel zu reisen. Aber man erwischte ihn und verurteilte ihn zu 25 Jahren Arbeitslager. Er wurde von seinen Eltern und seinen beiden Geschwistern getrennt. Sein Bruder saß bereits wegen eines ähnlichen „Verbrechens“ in einem anderen Lager.

Im Lager befanden sich etwa tausend Männer, die ein Elektrizitätswerk bauen mussten. Etwa zwanzig Gefangene waren Juden.

Als der Sommer nahte, sehnten sich die Juden danach, die bevorstehenden Hohen Feiertage zu begehen. Sie wussten, dass sie kein Schofar, keine Torarolle und keine Tallitot (Gebetsschals) hatten; doch sie hofften, einen Machsor zu bekommen, ein Buch mit Gebeten für die Hohen Feiertage.

Mein Vater sah einen Mann von „draußen“, einen Ingenieur, der für das Lager arbeitete. War der Mann nicht ein Jude?

Er wartete auf eine Gelegenheit, ihn anzusprechen. „Kenstu meer efscher helfen?“ (Kannst du mir vielleicht helfen?) fragte er ihn flüsternd auf Jiddisch, das die meisten russischen Juden damals fließend sprachen. Er sah, dass die Augen des Mannes verständnisvoll aufblitzten.

„Kannst du mir einen Machsor bringen?“, fragte mein Vater. Der Ingenieur zögerte. Das war für beide lebensgefährlich! Dennoch wollte er es versuchen.

Einige Tage vergingen. „Wie sieht er aus?“, erkundigte sich mein Vater.

„Gut und schlecht zugleich“, antwortete der Ingenieur. Er hatte mit Mühe einen Machsor gefunden, aber es war der Einzige, den der Vater seiner Freundin besaß, und dieser Mann wurde wütend, als seine Tochter ihn bat, das Buch herzugeben. Vielleicht sagte sei ihm den Grund, vielleicht auch nicht.

Aber mein Vater ließ nicht locker. Vielleicht konnte dieser Mann ihm das Buch leihen; dann würde er es abschreiben und rechtzeitig vor Rosch Haschana zurückgeben.

Der Ingenieur schmuggelte den Machsor ins Arbeitslager und gab es meinem Vater.

Um den Text abzuschreiben, baute mein Vater eine große Holzkiste und kroch jeden Tag ein paar Stunden hinein. Dort schrieb er insgeheim den Machsor in ein Notizbuch ab, Zeile für Zeile. Nach einem Monat hatte er das ganze Buch abgeschrieben. Aber eine Seite fehlte: die mit dem Kol Nidre, dem ersten Gebet, das an Jom Kippur gesprochen wird.

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Foto: Chabad Bibliothek
Der von Hand 1951 abgeschriebene Machsor von Rabbi Mosche Greenberg im Arbeitslager in Omsk, Sibirien in 1951

Mein Vater gab das Buch zurück, und der Herbst kam. Die jüdischen Gefangenen erfuhren das Datum der Feiertage durch Briefe von Zuhause und bestachen die Wachen mit Zigaretten, damit sie sich in der Kaserne zum G-ttesdienst versammeln durften.

Mit seinem handgeschriebenen Gebetbuch trat mein Vater als Kantor (Vorsänger) auf und rezitierte jedes Gebet. Die anderen wiederholten die Worte leise und feierlich. Sieben Tage später trafen sie sich zum Kol-Nidre-G-ttesdienst. Doch trotz aller Bemühungen konnte sich keiner an alle Worte des Gebets erinnern.

Nach fast sieben Jahren im Lager wurden mein Vater und alle politischen Gefangenen entlassen, da Stalin gestorben war. Das Einzige, was mein Vater mitnahm, war sein Machsor.

Er war wieder mit seiner Familie vereint und heiratete. Ich war ein kleines Kind, als meine Familie 1967, fünfzehn Jahre nach Vaters Entlassung aus dem Lager, nach Israel auswandern durfte. Der Machsor begleitete uns.

Mein Vater, der heute noch in Bnei Brak in Israel lebt, denkt nicht gerne an diese schweren Jahre in Sibirien zurück. Doch wenn er, selten genug, eine Geschichte aus jener Zeit erzählt, versichert er unter Tränen, dass er nie an einem so bedeutsamen G-ttesdienst teilgenommen hat wie damals.

Im Jahr 1973 besuchte er den Lubawitscher Rebbe in New York und schenkte ihm den Machsor.

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Mein Vater, Rabbi Mosche Greenberg

Vor einigen Monaten besuchte ich die Bibliothek des Rebbe und fand den Machsor meines Vaters! Ich betrachtete das zerfledderte Buch mit seinen brüchigen Seiten und den hebräischen Buchstaben, die er so eilig, respektvoll und entschlossen niedergeschrieben hatte. Ich kopierte sie – mit einem Kopiergerät.

Dieses Jahr an Jom Kippur werde ich den G-ttesdienst im Chabad-Zentrum von Solon in Ohio leiten. Ich werde die Kopie des Machsors mitnehmen. Das Kol Nidre fehlt immer noch.

Mein Vater konnte es während seiner Gefangenschaft nicht sprechen. Dieses Jahr werde ich meine Gemeinde und uns alle bitten, es für ihn zu rezitieren – und für alle, die keine Gelegenheit dazu haben.