Chanukka ist eine Zeit, in der ich an meine Mutter denke. Es sind erst zwei Jahre seit ihrem Tod vergangen, bei meinem Vater ist es schon wesentlich länger her. Dies ist nun das dritte Jahr ohne eine Chanukka-Party im Haus meiner Mutter.

Meine Eltern waren nicht gerade das, was wir als „religiös“ bezeichnen würden und doch vermittelten sie mir einige meiner kostbarsten Wertvorstellungen, die ich besitze. In Anbetracht der Trennung, die die jüdische Welt heimsucht, und zwar sowohl innerhalb der religiösen Gemeinde als auch zwischen religiösen und nicht-religiösen Juden, bin ich meinen Eltern für das, was sie mir gegeben haben, besonders dankbar.

Vor 18 Jahren, als ich 36 war, begann ich zum ersten Mal in meinem Leben Tora zu lernen. Mein Rabbiner betonte, dass „ein Jude ist ein Jude ist ein Jude“. Er hämmerte das Konzept, dass das jüdische Volk eine grosse Familie sei, in meinen Kopf hinein. Hatte ich an etwas jüdischem oder an einer jüdischen Person etwas auszusetzen, so sprach er mit mir über Loyalität; die Art von Loyalität, die eine Familie zusammenhält, eine Loyalität, die Intellekt und Urteilsvermögen transzendiert.

Meine Eltern lebten dieses Konzept von Loyalität vor. Wir waren eine Familie, die zueinander stand, und die, was noch wichtiger ist, einander akzeptierte, auch wenn wir verschieden waren.

Niemand forderte die Loyalität meiner Eltern mehr heraus als ich. Ich schwamm andauernd gegen den Strom. Ich erinnere mich, wie ich einst an einem Hungerstreik wegen irgendeiner Ungerechtigkeit teilnahm, und dabei mit meinen Mitstreikenden vor dem Rathaus in Chicago campierte. Es war etwa 23:30 Uhr und wir sangen die Bürgerrechtshymne „We Shall Overcome“. Plötzlich sah ich auf und erblickte meinen Vater. Er lächelte, kam zu uns und begann mit uns mitzusingen. Mein Vater war ein apolitischer Mensch. Er protestierte nicht, und hatte es auch nicht gerne, dass ich protestierte.

„Was machst denn du da?“ fragte ich ihn.

„Ich kam um zu sehen, wie es dir geht“, antwortete er. Mein Vater blieb nicht lange, aber es war lange genug. Ich werde diese Nacht nie vergessen. Dies war Loyalität.

Als ich vor ein paar Monaten von New York nach Israel zurückfuhr, sass ich neben einem säkularen Israeli, der von religiösen Juden nicht übermässig angetan zu sein schien. Während den ersten Flugstunden fanden wir unverfängliche Gesprächsthemen und es war ganz nett.

Mit der Zeit begaben wir uns aufs Glatteis und nahmen riskantere Themen in Angriff. Stritten wir? Ein bisschen. Aber grösstenteils hörten wir einander zu. Es wurde uns beiden bewusst, dass dieser Flug uns eine Möglichkeit bot den „Anderen“ kennenzulernen. Wir hatten beide mehr Fragen als Antworten. Wir waren beide Reisende in unbekannte Gefilde. Wir verstanden, dass die Kunst auf dieser Reise darin bestand uns selbst zurückzustellen und zu versuchen, die Welt durch die Augen des Anderen zu entdecken.

Einigkeit oder Verständnis war nicht unser Ziel. Wir wollten einander nicht beeinflussen. Aber wir verstanden, dass sich da eine einmalige Gelegenheit bot, die Lebensauffassung eines Anderen zu erfahren. Während des Fluges schienen wir uns unserer Verbindung zueinander als Juden, insbesondere als Juden in Israel, bewusst zu sein.

Es kamen keine grossen Wahrheiten bei unserem Gespräch heraus. Und doch wussten wir, dass zwei Juden einander bei einem anonymen Flug gefunden hatten.

Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen; ich weiss nicht einmal, ob ich ihn auf der Strasse wiedererkennen würde. Ich wusste, dass er seiner Frau und seinen Freunden von unserem Gespräch berichten würde; ich nehme an, dass er dabei ähnliche Erfahrungen machte wie ich selbst. Noch Wochen danach, wenn ich über israelische Politik oder Trennung zwischen Religiösen und Nicht-Religiösen diskutierte, hatte ich das seltsame Gefühl durch seine Ohren zu hören. Die Gespräche nahmen eine neue Tiefe an. Behauptungen und Antworten, die bisher als selbstverständlich vorausgesetzt waren, erhielten neues Leben und Frische.

Ich befand mich an diesem aufregenden Punkt, wo die Gegensätze des Lebens, wenn sie einmal blühen dürfen und nicht unter vorgefassten Meinungen begraben werden, Hoffnung und Versöhnung versprechen.

Es war nicht so, dass sich mein Glaube oder meine Meinungen veränderten; sie wurden vielmehr erst richtig lebendig. Sie wurden erfüllt von Neugier und einem erneuten Gefühl von Sinnhaftigkeit. Die Stagnation, die durch ein „sich-sicher-Fühlen“ entsteht, wurde elektrisiert, ja sogar ein bisschen chaotisch. Mit der Hilfe von Freunden und Rabbinern tauchte ich in Themen ein, die ich gewohnheitsmässig hatte verkrusten lassen. Ich fühlte mich nicht bedroht, vielmehr wurden meine Überzeugungen stärker, dynamischer und ansprechender.

In diesen kurzen Stunden des Zusammenseins zweier Juden, ein Zusammensein dessen einziger Kitt aus unserer gemeinsamen jüdischen Seele bestand, fand ich keine Lösung für die Trennung, die unser Volk heute plagt. Ich sah nur eine Möglichkeit, eine Öffnung, durch die wir zusammenkommen können. Dieses Zusammenkommen verlangt keine Verminderung unserer Unterschiede, sondern transzendiert sie.

Da ich nur einen flüchtigen Blick auf diese Möglichkeit erhaschen konnte, kann ich es nicht genau ausdrücken. Ich weiss nur, dass diese Möglichkeit die unerschütterliche Anerkennung der jüdischen Familie, die wir bilden, der Loyalität, die wir besitzen und der einzigartigen Seele, die wir teilen, voraussetzt.

Während wir uns nun Chanukka nähern, vermisse ich meine Eltern. Ich denke daran, was sie mir auf ihre eigene Art beigebracht haben, und ich erinnere mich daran, dass mit Familienmitgliedern nicht immer die Notwendigkeit besteht zu überzeugen oder zu beeinflussen, zu gewinnen oder zu verlieren.

Es mag zwar keine offensichtliche Lösungen für grundlegende Meinungsverschiedenheiten zwischen Eltern, Kindern und Geschwistern geben. Aber als Familie müssen wir immer vertrauen, dass wir durch Loyalität, Unterstützung und unerschütterliche Verbindung zueinander, unseren Weg finden werden.