Wir wissen alle von Musikunterricht oder Fahrstunden, denn diese Fertigkeiten müssen gelernt werden. Aber Unterricht im Sehen? Sehen ist etwas, womit eine gesunde Person geboren wird, mit der Fähigkeit, es automatisch zu tun; wozu würde da jemand Unterrichtsstunden brauchen?
Doch lernen zu sehen ist gerade das, was uns das Ausüben des Chanukka-Gebots lehrt zu tun. In „HaNerot halalu“ – jenem kurzen Gebet, welches gleich nach dem Anzünden der Chanukka-Lichter gesungen wird – sagen wir: „Diese Lichter sind heilig ... Wir haben nicht Erlaubnis, sie [für praktischen Gebrauch] zu verwenden, sondern einzig, sie zu sehen.“
Das ist allerdings recht seltsam, insbesondere da die anderen Sorten von Licht, welche wir als eine Mizwa anzünden – die Lichter für Schabbat und Feiertage – ausdrücklich dazu da sind, der Beleuchtung zu dienen. Zu Chanukka sind wir gezwungen, mit den Lichtern nichts Anderes zu tun, als sie anzuschauen.
Jeder jüdische Feiertag trägt eine Lehre in sich, welche in der Lage ist – so wir sie aufnehmen – unser Leben während des ganzen Jahres zu erhöhen. Eine Schlüsselkomponente von Chanukka ist es, uns auf eine völlig neue Art sehen zu lehren.
Schauen wir auf ein Chanukka-Licht oder eine Chanukka-Kerze, so sehen wir drei wesentliche Komponenten: 1) einen Docht, 2) Brennstoff (Öl oder Wachs) 3) eine Flamme, vom Docht getragen und vom Öl genährt.1
Um eine klare, dauerhafte Flamme zu haben, sind alle drei Komponenten von Bedeutung. Ein entzündeter Docht erlischt schnell wieder mit einer unkontrollierten Rauchschwade in der Vergessenheit. Öl oder Wachs ohne einen Docht wird nicht in einer erhellenden Art leuchten und ist sehr schwierig zu entzünden, da es unter normalen Bedingungen eine kalte und träge Substanz ist. Und ohne die Flamme gäbe es natürlich gar keine Chance auf Licht.
In jener Epoche, die zu den Ereignissen, an welche wir uns zu Chanukka erinnern, führte, lautete die hellenistische Herausforderung an die gläubigen Juden: Warum bestehst du darauf, den höchsten Zweck von Mizwot mit bestimmten Objekten, bestimmten Orten, bestimmten Zeiten zu verknüpfen? Symbolik ist ja fein, aber glaubst du wirklich, dass da ein innerer Wert in diesen Praktiken ist? Kannst du nicht große spirituelle Erfahrungen haben ohne all diese materiellen Details? Philosophiere, meditiere – aber wozu Tefillin? Wozu Schabbat? Wozu die Brit Mila? Sei spirituell oder sei materiell, aber was spielst du da für Geschichten vor, und behauptest, dass physische Aktivität einen inneren spirituellen Wert habe?
Die jüdische Antwort ist, dass tatsächlich die Seele und der Körper im Gegensatz zueinander stehen, und einen Kampf gegeneinander führen. Der Körper verlangt das Vergängliche und Berührbare, die Seele verlangt das ewige und geistige. Wenn die nach oben strebende Seele den irdischen und kalten Docht des Körpers trifft, kämpfen sie und es raucht. Entweder gewinnt der Körper und bringt die Flamme zum erliegen, oder gewinnt die Seele und verzehrt den Körper, nur formlosen Ruß hinterlassend. Westliche Traditionen von Hedonismus und Askese sind die beiden Seiten dieser selben hellenistischen Medaille. Im Modell des Widerspruchs kann sich nur eine Seite auf Kosten der anderen behaupten.
Das Judentum eröffnet ein anderes Modell – die Lampe. Die Flamme verzehrt den Docht nicht; sie ist Quelle eines klaren und dauerhaften Lichts. Das Öl gleicht zwischen dem Docht und der Flamme aus, wird langsam verbraucht, während Flamme und Docht in Frieden miteinander ihre Integrität bewahren. Das Öl sind die Mizwot – die Vorschriften des Judentums. Sie sind die physischen Dinge, in denen wir G-tt finden sollen. Die Herausforderung des Physischen ist es, G-ttlichkeit darin zu finden, da das physische Dunkelheit und Bedeckung ist, die schöpferische Kraft in ihm mehr verbergend als aufdeckend, als es das Spirituelle tut.
Wenn wir uns jedoch dem G-ttlichen Willen unterordnen und sagen: „Zeige uns, wo Du bist in dieser physischen Welt“, so werden wir zu den Mizwot geleitet – den physischen Handlungen, welche G-tt in unserer endlichen Welt als Tore zur unendlichen Welt schafft. Wenn unser Körper (der Docht) in sein „Öl“ getaucht wird, und die Flamme der Seele an unsere Körper geheftet, so drückt die Handlung das G-ttliche aus und der Körper ist erleuchtet und in Frieden mit dem Licht der Seele. Wir sehen, da sind keine Widersprüche im Leben, nur mögliche Harmonien.
G-tt ist Wahrheit, und Wahrheit ist das, was immer und unter allen Umständen gleich bleibt. Wenn G-tt im physischen Bereich weniger anwesend oder erreichbar ist, so ist das nicht Wahrheit. Wie ist G-tt im Physischen erreichbar? Durch das Öffnen der Tore, welche die Praxis der Mizwot sind, die G-ttes Gegenwart sind durch die Tatsache, dass Er diese Dinge von uns verlangt.
Das sind die Unterrichtseinheiten im „Sehen“, welche das Chanukka-Licht uns lehrt. Sieh nie das Physische als Widerspruch zum G-ttlichen, sondern als notwendigen Bestandteil einer erleuchteten und gerechten Welt. G-tt ist für uns nur wirklich, wenn Er immer und unter allen Bedingungen präsent sein kann. Sieh nie das Physische als den Feind, oder das Spirituelle als unerreichbar. Sieh sie als Teile einer Lampe, die nur zusammengefügt werden muss, um zu leuchten.
Sieh die Lichter von Chanukka, und nichts wird mehr so ausschauen wie zuvor.
Fußnoten
1.
Ein elektrisches Licht oder ein Gefäß mit brennbarer Flüssigkeit würden das Gebot, Chanukka-Lichter anzuzünden, nicht erfüllen.
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