Die Zeit zwischen Pessach und Schawuot ist durch die "S'fira" gekennzeichnet – das ist der Brauch, die "Omer"-Tage zu zählen. Wir fangen mit diesem Zählen unmittelbar nach dem Tage der Befreiung aus Ägypten an, und wir zählen 49 Tage; am Ende dieser Periode feiern wir Schawuot, das Fest der Offenbarung der Tora, womit der Höhepunkt der Befreiung angezeigt ist.

Ein berühmter Ausspruch des Baal Schem Tov, des Begründers des Chassidismus, lautet: "In allem, was er sieht oder hört, soll sich ein Jude fortwährend bemühen, eine Lehre zu finden, eine Anweisung dazu, wie er G-tt besser dienen kann." – Dieser Wahlspruch gilt für "alles, was man sieht oder hört"; und dies ist ganz gewiss so, wenn es sich um die Festtage unserer Tora handelt, die ja alle maßgebende Lehren für unser tägliches Verhalten künden. Eine sehr wichtige Lehre dieser Art, die wir hier speziell herausstellen wollen, ist dem Pessachfeste und der Ausführung der "S'fira" zu entnehmen:

Jahrhunderte lang waren die Israeliten in Ägypten versklavt – es war eine Versklavung des Körpers wie des Geistes – und waren damit der großen Gefahr der Assimilation ausgesetzt. Tatsächlich waren sie auch auf einem so niedrigen spirituellen Grad angelangt, dass sie auf Moses, als er ihnen die Botschaft der Befreiung aus ägyptischer Knechtschaft brachte, zuerst nicht hörten, "wegen ihrer geistigen Beengung und ihrer harten Arbeit" (Exodus 6, 9).

Nichtsdestoweniger schwangen sie sich, nach ihrer Befreiung, in verhältnismäßig kurzer Zeit zu dem höchsten spirituellen Stand empor, den zu erreichen einem Menschen gegeben ist. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Israel war dann befähigt, der G-ttlichen Offenbarung am Sinai beizuwohnen, und war würdig, tiefste Erkenntnis – eine unversiegbare Quelle von Weisheit und Glauben für alle zukünftigen Generationen – entgegenzunehmen.

Diese Tatsache beweist, dass jeder Einzelmensch fähig ist, in einer außerordentlich kurzen Zeitspanne aus tiefstem Abgrund zu den höchsten Höhen der Geistigkeit anzusteigen, wenn er nur den aufrichtigen Wunsch und Willen dazu hat.

Diesen Wunsch und Willen besaßen die Kinder Israel zu jener Zeit. Als sie den wahren Zweck ihrer Befreiung erfuhren, nämlich die Tora am Berge Sinai zu empfangen, sahen sie diesem Augenblick sofort mit Ungeduld entgegen und zählten, in begieriger Erwartung des Ereignisses, jeden Tag (Schivlej Haleket, Aruga 8; R’an, Ende von Pessachim). Aus diesem Grunde zählen auch wir die Tage der "S'fira" und reproduzieren damit in unseren eigenen Herzen die Gefühle unserer Vorväter.

Aus dem eben Gesagten ist noch eine weitere ermutigende Botschaft für jedermann zu entnehmen: Wenn jemand den entschlossenen Willen zeigt, über seinen augenblicklichen Zustand hinaus weiter anzusteigen, dann hilft ihm G-tt zur Verwirklichung dieses Zieles mit; Er macht ihn frei von allen Belastungen, die ihm als Hindernisse im Wege stehen, so dass jeder Jude sein geistiges Lebensziel auf dieser Welt erfüllen kann.

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Es ist der Zweck jedes Zählens oder Messens, die genaue Anzahl einer Quantität oder die genaue Ausdehnung einer Sache festzustellen, wobei die Quantität oder Ausdehnung eine Variabel ist. Um ein Beispiel zu nennen: Periodisch wird eine Volkszählung vorgenommen, weil die Bevölkerungszahl entweder ansteigt oder abfällt. Ähnlich ist es mit allen Statistiken; sie befassen sich überall mit Dingen, die Schwankungen unterliegen. Wenn all diese verschiedenen Dinge stillstünden oder unveränderlich blieben, oder wenn sie nicht nachprüfbar wären, wäre es überhaupt müßig, solche Statistiken von Zeit zu Zeit aufzustellen.

Ein Element, welches sich der menschlichen Kontrolle weitgehend entzieht, ist die Zeit als solche. Die Zeit vergeht unerbittlich. Wir können ihren Ablauf weder verlangsamen noch beschleunigen, und es ist uns auch unmöglich, ihre Einheiten oder Masse abzuändern, so dass z. B. eine Stunde durch unser Dazutun länger oder kürzer als 60 Minuten sein könnte. Daher ergibt sich die Frage: Wenn dem so ist, was kann dann die "S'fira" bewirken?

Wenn wir die Zeit als unveränderlich und unkontrollierbar bezeichnen, so kann dies nur als teilweise wahr hingenommen werden. Vielmehr enthält die Zeit in sich selbst ein gewaltiges Potential, durch das jeder einzelne sehr viel erreichen kann. Während in dieser Hinsicht der Einfluss des Menschen auf Dinge, die seiner direkten Kontrolle unterstehen, immerhin beschränkt ist, ist tatsächlich sein Einfluss auf die Zeit in gewissem Sinne unbeschränkt. Denn die Zeit ist mit einem sehr elastischen "Gefäß" vergleichbar, dem eine ungeheure Aufsaugekraft innewohnt. Sie hat die Fähigkeit, sich auszudehnen oder zusammenzuschrumpfen, je nachdem wie viel oder wie wenig in dieses "Gefäß" hineingegeben wird. Anders ausgedrückt: wir können unsere Zeit mit unbeschränktem Inhalt füllen, oder wir können sie völlig vertun. Die identisch gleiche Zeiteinheit kann für den einen eine Ewigkeit ausmachen und für den anderen zu einem Nichts zusammenschrumpfen. Das wahre Maß der Zeit ist nicht ihre Quantität als solche, sondern was während ihres Ablaufes erreicht worden ist.

Obwohl es stimmt, dass wir den Gang der Zeit nicht aufhalten können, weil wir sie weder ausdehnen noch zusammenziehen können, lehrt uns die "S'fira" trotzdem, dass jede Zeiteinheit – und nicht nur eine lange Periode, sondern selbst ein einziger Tag – uns unbeschränkte Möglichkeiten bietet. Das Gleiche gilt für das menschliche Leben: Obwohl es auf eine bestimmte Anzahl von Jahren beschränkt bleibt, ist das Potential, sie nutzbar anzuwenden, und die Menge dessen, was in ihnen ausgeführt und erzielt werden kann, unbeschränkt.