Das sehr besondere Merkmal der augenblicklichen Tage zwischen Pessach und Schawuot ist die Sefira, das ist das an jedem von ihnen durchzuführende Omerzählen. Diese Jahreszeit ist so wohl durch außerordentliche physische wie durch vorzügliche spirituelle Aspekte gekennzeichnet.
Im physischen Bereiche ist bemerkenswert, dass die ganze Natur sich jetzt neu belebt und neu erblüht. Nach ihrem Winterschlaf wird sie wieder von Leben erfüllt, sie zeigt sich in frischer Kraft und Lebensfähigkeit. Sie produziert, in getreuem Abbild, genau die gleichen Dinge, welche diese Jahreszeit vor einem Jahre charakterisiert haben, und vor zwei Jahren, und so den ganzen Weg zurück bis zu den allerersten Ansätzen im Kreislauf der Natur.
Ebenso haben wir in unserem religiösen und spirituellen Leben die Jahreszeiten und die Feste, die jedes Jahr wiederkehren; und diese präsentieren sich jedes Mal von neuem in der Form und mit dem Inhalt, die für sie anfänglich und ursächlich maßgebend waren.
So können wir, wenn wir nur hinreichend darauf vorbereitet und abgestimmt sind, auch gerade in diesen Wochen, in denen die Sefira tagtäglich das Pessachfest (Gedenken der körperlichen Befreiung) mit dem Höhepunkt von Schawuot (Erinnerung an die geistige Freiheit) verbindet, die Erfahrungen unserer Vorfahren erneut durchleben, wie diese tatsächlich die Offenbarung der Tora am Sinai mitgemacht und die Tora entgegengenommen haben.
Es war in der Tat ein sehr langer Weg, den unsere Vorfahren in der kurzen Zeitspanne von nur 50 Tagen zurücklegten. Er erstreckte sich von den Abscheulichkeiten der damaligen ägyptischen "Kultur", bei der (wie sogar archäologische Ausgrabungen schließlich belegt haben) moralische Verderbtheit und Vielgötterei vorherrschten, bis hin zum reinen, unverfälschten Monotheismus am Berge Sinai, wo der Jude die Tora entgegennimmt mit dem Ausruf (Exodus 24, 7): "Na'asse Wenischma" – "Wir werden tun (gehorchen), und wir werden verstehen."
Da kam "Na'asse" zuerst, die vollständige Ergebenheit des Menschen unter G-tt. Mittels der Tora kommt G-tt auf den Berg Sinai "herunter", während der Mensch seinerseits zu G-tt emporsteigt; die Seele löst sich von all den Fesseln, durch die sie erdgebunden ist, und auf den Fittichen von G-ttesfurcht und G-ttesliebe vereinigt sie sich mit ihrem Schöpfer in Harmonie und Eintracht. Erst dann kann die Seele völlig die tiefste Bedeutung der Worte "Ich bin der Ewige, dein G-tt" in sich aufnehmen, zusammen mit den restlichen Zehn Geboten, bis "Du sollst dich nicht gelüsten lassen" (Exodus 20, 2-14), das heißt, dass man nicht nur das nicht nehmen darf, was einem nicht gehört, sondern dass darüber hinaus man es nicht einmal begehren darf.
Dieser gewaltige Anstieg vom Abgrund Ägyptens zu den erhabenen Höhen von Sinai konnte nur deswegen gelingen, weil alle Beteiligten einen reinen, unkomplizierten Glauben an G-tt hatten, von dem Tage an, da Eltern und Kinder, Frauen und Kleinkinder, insgesamt mehrere Millionen Menschen, sich auf den Weg durch die unwirtliche Wüste machten. Dass dieses Unternehmen gegen alle Regeln der Vernunft verstieß, flösste ihnen keinerlei Schrecken ein; sie folgten ganz einfach dem G-ttlichen Ruf in vollem Vertrauen.
Dies fand dann auch die besondere Gunst G-ttes, in den unsterblichen Worten des Propheten Jeremia (2, 2): "Ich gedenke um deinetwillen der Freundschaft deiner Jugendzeit, der Liebe deiner Brautzeit, als du hinter mir hergingst in der Wüste". Es war dieses Vertrauen, das die Juden die Jahrhunderte hindurch gestützt hat, eine zahlenmäßig unbedeutende Minderheit inmitten einer feindlichen Welt, ein kleiner Lichtpunkt, der stets von tiefster Dunkelheit bedroht war. Dieses absolute Vertrauen auf G-tt ist es, das wir auch heute brauchen, heute noch mehr als je zuvor.
Man sagt, dass die ganze Sonne sich in einem einzigen Wassertropfen widerspiegelt. So spiegelt sich unser ganzes Volk in jedem einzelnen von uns wider; und daher kommt das, was für das Volk in seiner Gesamtheit gilt, auch für jede einzelne Person zur Anwendung.
Diskutieren Sie mit