In die Woche, die auf den Schabbat des heutigen Wochenabschnittes Dwarim folgt, fällt immer Tischa beAw, also der Fasttag des 9. Aw, der an die Zerstörung des Bet Hamikdasch, des Tempels in Jerusalem erinnert. Auf die Vorlesung aus der Tora an diesem Schabbat folgt stets eine spezifisch hierfür bestimmte Haftara aus dem Prophetenbuch Jesaja, in der der Prophet die drohende Zerstörung voraussagt; diese Haftara beginnt mit den Worten (Jes. 1, 1): "Chason Jeschajahu" ("Vision Jesajas"). Deshalb wird dieser Schabbat als "Schabbat Chason" bezeichnet.
R. Levi Jizchak von Berditschew war einer der größten chassidischen Führer. Er pflegte zu sagen, dass an diesem "Schabbat Chason" – zu übersetzen also als "ein Schabbat der Vision" – man wie von weitem das dritte und endgültige Bet Hamikdasch wahrnehmen kann. Ist eine solche Aussage, an sich, nicht ein Paradoxon? Dieser Schabbat, unmittelbar vor dem traurigsten Tage des jüdischen Jahres (an welchem die Zerstörung des Bet Hamikdasch beweint wird), dieser gleiche Schabbat sollte die schließliche Erlösung und den Wiederaufbau des Tempels ankündigen!
Um dies zu verstehen, müssen wir ein ähnliches Paradoxon vergleichsweise heranziehen: Der Wochenabschnitt für diesen "Schabbat Chason" ist – wie gesagt – immer die Sidra Dwarim, erster und einführender Abschnitt des fünften Buches der Tora, Deuteronomium. Dieses Wort Deuteronomium bedeutet "Wiederholung der Tora" (oder "Rückblick auf die Tora"). Denn dieses fünfte Buch, welches zwar – dies sei klar zum Ausdruck gebracht – zu der einen und unteilbaren Tora gehört, besitzt dennoch einen eigenen, kennzeichnenden Charakter (s. Talmud, Megilla 31b). Es wurde einer "neuen Generation" in Israel vorgetragen, den Israeliten nämlich, die kurz vor dem Einzug ins Heilige Land standen, und deren spiritueller Standort niedriger war als derjenige der "alten Generation", der Menschen also, die als Erwachsene aus Ägypten ausgezogen waren.
Über diese frühere Generation, für die materielle Dinge und Notwendigkeiten belanglos waren, lässt sich aussagen, dass ihre Kenntnis und Erkenntnis (Würdigung) aller geistigen Werte so akut war, dass sie – gleichsam – G-ttlichkeit "sehen" konnten. Ihre Kinder dagegen, die über diese Dinge lediglich belehrt worden waren, die so etwas nur "gehört" hatten, waren dabei, ins Land Kanaan einzuziehen, wo ihrer eine ganz andere Aufgabe harrte – zu pflügen, zu sähen, zu ernten, also sich mit körperlichen, weltlich-materiellen Dingen abzugeben.
Dennoch – und darin liegt das eigentliche Paradoxon – war es allein und ausschließlich der zweiten Generation vorbehalten, Israel zu einer geistigen Verfassung von einem so hohen Niveau zu bringen, dass dadurch die Errichtung der Heiligtümer, zuerst in Schilo und später in Jerusalem, ermöglicht wurde (s. Deut. 12, 9; Talmud, Megilla 10a und Sewachim 119a; auch Sohar). Denn es ist gerade dort, wo der Mensch "hinuntersteigt", um sich mit irdischen, alltäglichen Dingen zu beschäftigen, dass G-tt in der Lage ist, den eigentlichen und wahren Zweck der Welt zu veredeln, zu weihen und zu erhöhen – womit dann, im Gegenteil, einem größtmöglichen Anstieg ein Anstoß gegeben wird.
Ähnlich ist es mit dem Paradoxon an diesem Schabbat bestellt: Der Niedergang, das Hinuntergleiten in den Tiefstand von Exil, wie dieser Zustand das direkte Ergebnis der Zerstörung des Heiligtums in Jerusalem ist, und wie er eben am Tischa beAw ins Gedächtnis zurückgerufen wird, er ist es, der dazu führt, dass der größtmögliche Anstieg verwirklicht wird – das ist die Erbauung des dritten, dauerhaften Bet Hamikdasch durch den gerechten Maschiach. Bald in unseren Tagen.
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