Diese Betrachtung, spezifisch für "Schabbat Chason", den Schabbat vor Tischa beAw (Trauer- und Festtag für den zerstörten Tempel), soll dazu beitragen, das Wesen von Galut (Exil) tiefer zu verstehen, und auf eine damit verbundene besondere Aufgabe hinzuweisen.

Exil im Judentum bedeutet Abstieg; aber im Verlauf dieses langen Exils kommt es immer wieder vor, dass gewisse, auserwählte Einzelpersonen noch einen zusätzlichen Abstieg erdulden müssen, sozusagen eine persönliche Galut neben der allgemeinen. Es war vom König der Könige vorausgeplant, dass solche Menschen an einem Orte leben sollten, an dem die Galut sich besonders stark bemerkbar macht, wo also die geistige Finsternis schon fast undurchdringlich ist; und dass diese Menschen von G-tt für eben diesen zusätzlichen Abstieg bestimmt worden sind, ist als klares Zeichen dafür zu werten, dass gerade ihnen es ermöglicht worden ist, diesen "Abstieg" in einen geistigen "Anstieg" umzuformen – eine Fähigkeit, die andere nicht besitzen.

So haben viele unserer größten Tora-Gelehrten und Weisen diese spezielle Aufgabe dadurch erfüllt, dass sie in Städte und Länder gereist sind, deren Bewohner sich sehr weit vom Geiste der Tora entfernt hatten. Zum Beispiel berichtet der Talmud, dass Raw, der hervorragende Gelehrte und Lehrer, von Erez Israel nach Babylon kam. Damals war Israel, mit seinen bedeutenden Tora-Akademien und deren Weisen, der Mittelpunkt von Studium und Gelehrsamkeit, während in Babylon das geistige Niveau sehr niedrig war.

Da mögen wir uns wohl fragen: "Wie konnte eine so große und heilige Tora-Persönlichkeit wie Raw seinen Wohnsitz vom Heiligen Land nach Babylon verlegen?" Es war jedoch G-ttes Wille und Plan, dass Raw so "hinabsteigen" sollte und dass eben dadurch dieser "Abstieg" im Laufe der Zeit in den größten "Anstieg" umgewandelt würde – wie es in der Tat sich erfüllte. Denn mit Raw wurde der Samen gesät, durch den Babylon dann zu einem wichtigen und dynamischen Tora-Brennpunkt wurde.

Einerseits hat sich mit jeder neuen Generation die geistige Dunkelheit in der Welt ringsum verdichtet, weil doch der Galut-Zustand immer schlimmer, immer bedrückender geworden ist. Gleichzeitig aber sind die Strahlen ständig intensiver geworden, wie sie von stets neuen Aspekten der Tora und ihrer erhabenen Exponenten in jeder Generation ausgegangen sind; und dadurch sind gerade die von Galut am meisten geschwächten und gefährdeten Kreise unseres Volkes erleuchtet, angeleitet und neu belebt worden.

Eine solche Entwicklung bahnte sich auch an der Begründung der chassidischen Bewegung durch den Baal Schem Tov und ihren Ausbau durch den Meseritscher Maggid, den "Alten Rebben" (R. Schneur Salman von Liadi, Begründer von Chabad-Lubawitsch) und den chassidischen Meistern nach ihnen. Sie bedienten sich der Methode, Anhänger in Städte und Dörfer zu entsenden, deren Bewohner offensichtlich aus einem geistigen Notstand "erhöht" werden mussten. Die beste Umgebung für diese Anhänger selbst, die sie für sich wohl gewünscht hätten, wäre zweifellos in nächster Nähe ihres bedeutenden Rebben gewesen.

Indessen erzielten sie in der Erfüllung dieser ihrer Aufgabe, obwohl es nach außen hin wie ein "Abstieg" aussah, einen doppelten "Anstieg": einmal für die Gemeinschaft, in die sie abgesandt worden waren, und zum zweiten – als konstituierendes Element ihrer Arbeit – für sich persönlich.

Auch in unseren Tagen, in der überall gefahrvollen Situation, wird von Abgesandten von Lubawitsch an vielen Plätzen gezeigt, wie eine Galut-Mission eine Umformung von "Abstieg" in "Anstieg" mit sich bringt: Ihr Beitrag besteht darin, dass sie, ungeachtet eines schmerzlichen Abschiednehmens von "daheim", an den Plätzen ihres "Abstieges" einen wesentlichen "Anstieg" zustande bringen, wo immer dies auch ist, wie entlegen jene Orte auch sein mögen; und dadurch erleben sie gleichzeitig eine mächtige geistige Bereicherung für sich selbst.