XI. „Mit dem Beginn von Adar wird die Freude vermehrt.“
In der Mischna1 heißt es: „Mit dem Beginn von Aw wird die Freude eingeschränkt.“ Die Gemara2 kommentiert das so: „Genauso wie am Beginn von Aw die Freude eingeschränkt wird, so wird am Beginn von Adar die Freude vermehrt.“
Diese Bemerkung geht von zwei Prämissen aus, die sich zu widersprechen scheinen:
a) Der Ausdruck „genauso wie ...“ impliziert, dass die Regelung „Mit dem Beginn von Aw wird die Freude eingeschränkt“ die grundlegende, prinzipielle Regelung ist; tatsächlich ist es die Regelung, die in der Mischna ausdrücklich genannt wird. Die Regelung „Mit dem Beginn von Adar wird die Freude vermehrt“ wird durch Analogie gelehrt – „genauso wie“, also lediglich abgeleitet von dem ursprünglichen Prinzip, das sich auf den Monat Aw bezieht.
b) In der Praxis stellen wir jedoch fest, dass die Einschränkung der Freude im Aw begrenzt ist. Nicht alles wird eingeschränkt; einige Formen der Freude sind sogar in Aw erlaubt.3 Die Zunahme der Freude mit dem Beginn von Adar ist jedoch uneingeschränkt, bis hin zum „Verlust der Fähigkeit zur Differenzierung.“4 Dies stellt eine Schwierigkeit dar. Schließlich wird das Prinzip der zunehmenden Freude mit dem Beginn von Adar von dem Prinzip abgeleitet, das sich auf den Beginn von Aw bezieht – wie die Gemara sagt: „genauso wie ...“; wie kann dann die Ableitung ein größeres Ausmaß haben als das Original?
XII. Dafür gibt es eine einfache Erklärung. Es muss immer Freude herrschen, sogar im Monat Aw, wegen des Imperativs „Dienet dem Ewigen mit Freude“,5 der für alle Zeiten gilt. Wenn es dann eine zusätzliche Anforderung gibt, die Freude zu steigern, wird diese Freude über die Einschränkungen hinaus ausgedehnt. Die „Einschränkung der Freude“ ist jedoch begrenzt, denn einige Formen der Freude gelten auch dann, und zwar insbesondere angesichts des Gebots, dem Ewigen mit Freude zu dienen.
Die tiefere Bedeutung dieses Prinzips stimmt mit der im Ma-amar erörterten Prämisse überein:6 Unser letztendliches Ziel ist es, die Absicht des „Heiligen, gesegnet sei Er, zu verwirklichen, in den unteren Welten eine Wohnstätte zu haben“7, d. h. in unserer physischen Welt hier unten. Wenn ein Mensch in seiner Wohnung lebt, ist er dort mit seinem ganzen Wesen. Das ist auch die Bedeutung einer „Wohnstätte in den unteren Welten“ – dass der Allmächtige, gesegnet sei Er, in Seiner eigenen Essenz dort ist.
Die Heilige Schrift sagt: „Kraft und Frohsinn sind an Seinem Ort.“8 In der Gegenwart G-ttes ist Freude.9 Eine Wohnstätte in den unteren Welten erfordert daher „Kraft und Frohsinn“ – denn nur dann kann sie wirklich Sein Ort und Seine Wohnstätte sein.10
Das erklärt, warum der Mensch immer mit Freude erfüllt sein muss. Sicherlich gibt es Zeiten, für die eine Einschränkung vorgeschrieben ist, aber selbst dann muss es ein gewisses Maß an Freude geben, weil man zu jeder Zeit, in jedem einzelnen Moment, eine Wohnstätte für G-tt errichten muss. Das ist in der Tat der ganze Zweck des Menschen – „Ich wurde (nur) geschaffen, um meinem Schöpfer zu dienen.“11 Daher besteht die Pflicht, sich ständig in einem Zustand der Freude zu befinden, wirklich jeden Augenblick.
XIII. Die Tatsache, dass die Awoda des Menschen manchmal auf eine andere Art und Weise erfolgen muss, nicht auf die der Freude, kann nach derselben Prämisse verstanden werden, die im Ma-amar erklärt wird. Die Wohnstätte für G-tt wird ähnlich wie der Bau einer Wohnung für einen sterblichen König errichtet: Zuerst muss man alle Spuren von Schmutz usw. entfernen, und dann wird das Haus mit schönen Gegenständen geschmückt, damit es als Wohnung für den König geeignet ist.
Genauso verhält es sich mit dem spirituellen Dienst. Zuerst muss man allen Schmutz entfernen, und das tut man durch Merirut (Bitternis).12 Das ist die Awoda des Monats Aw – „die Freude wird eingeschränkt“ –, um die Fehler zu beseitigen, wie es zum Ausdruck kommt in dem Vers: „Wegen unserer Sünden wurden wir aus unserem Land verbannt.“ Dennoch ist dies nicht mehr als eine Vorbereitung für eine Wohnstätte; die Wohnstätte selbst wird mit Hilfe der Freude errichtet.
XIV. Die Gemara sagt, dass die Zunahme der Freude mit dem Beginn von Adar „genauso“ ist. Die Implikation ist, wie gesagt, dass diese Zunahme aus der Einschränkung der Freude mit dem Beginn von Aw folgt. Dies ist im Hinblick auf die in Chassidut13 erläuterte Prämisse zu verstehen, dass die Vortrefflichkeit des Lichts aus der Dunkelheit selbst hervorgeht. In diesem Zusammenhang stammt die uneingeschränkte Freude von Adar – bis hin zum „Verlust der Fähigkeit zur Unterscheidung“ – aus der Dunkelheit; d. h., die Unterdrückung der Sitra Achara14 durch Merirut bewirkt eine unermesslich große Freude ohne Einschränkung.
Das ist auch der Grund, warum im Monat Adar grenzenlose Freude herrscht, denn die Freude ist dann (anlässlich des Purim-Festes) aus der Dunkelheit hervorgegangen.15 So steht geschrieben: „Und viele aus dem Volk des Landes wurden Juden“:16 Das „Volk des Landes“, das die drei unreinen Kelipot bezeichnet, wurde zu Jehudim (Juden) – sie schwörten dem Götzendienst ab und bejahten die ganze Tora.17
Diese Awoda bringt die Vortrefflichkeit des Lichts zum Vorschein, dass an Purim die Pflicht besteht, sich bis zu dem Ausmaß zu freuen, dass man „die Fähigkeit zur Unterscheidung verliert“; und diese Steigerung der Freude ist für den ganzen Monat Adar bestimmt, wie es heißt: „Und der Monat wandelte sich [für sie von Kummer zu Freude ...]“,18 d. h. der ganze Monat Adar.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am Schabbat Mewarchim Adar 5716)
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