I. Zu dem Vers „Ich habe bei Lawan gewohnt (Garti)“1 bemerkt Raschi: Das Wort Garti hat den Zahlenwert von Tarjag (613), was bedeutet: „Obwohl ich bei dem bösen Lawan gewohnt habe, habe ich die 613 Mizwot eingehalten.“
Dies wirft jedoch einige Fragen auf: (a) Welche Beziehung besteht zwischen dieser Auslegung (Drasch) von „Ich habe die Tarjag (ein Begriff, der aus denselben Buchstaben wie Garti2 besteht) Mizwot beachtet“ und der einfachen Bedeutung (Pschat)3 von Garti, der mit Ger (Fremder; Ausländer) verwandt ist und sich somit auf den Aufenthalt eines Fremden bezieht? (b) Welchen Zweck hatte die Mitteilung an Esaw: „Ich habe die 613 Mizwot eingehalten“? Und (c) Welche Bedeutung hat diese Anweisung für uns?
II. „Ich habe bei Lawan gewohnt“ bedeutet, dass alle Aspekte von Lawan, alle physischen Objekte wie „Ochsen, Esel, Herden und Knechte und Mägde“4 für Jaakow nur Garti waren – etwas Fremdes und Unbekanntes. Sie waren nicht sein wahres Selbst.
Sein wahres Zuhause waren die Seele und die Aspekte von Tora und Mizwot. Alle materiellen Dinge waren nicht mehr als Gerut (ein Aufenthalt eines Fremden).
So heißt es später in der Sidra: „Er baute sich ein Haus und errichtete Hütten für sein Vieh“5 : „Für sich selbst“, für sein wahres Wesen, d. h. für die Seele und ihre Belange, baute er ein Haus, eine ständige Wohnstätte; „für sein Vieh“, d. h. für die materiellen Gegenstände, die etwas Zusätzliches, Erworbenes sind, errichtete er Hütten, d. h. eine vorübergehende Wohnstätte. (Denn die Seele an sich, und besonders die Seele in der Höhe – d. h., wie sie ist, bevor sie herabsteigt, um in einen physischen Körper gekleidet zu werden – hat kein Bedürfnis nach „Vieh.“ In der Tat hat die Seele keinen Berührungspunkt damit, und materielle Objekte werden erst „erworben“, wenn sie in diese Welt hinabsteigt.)
Der Rebbe, mein Schwiegervater, zitierte einmal einen Ausspruch des Maggid von Mesritsch:6 „Zu Hause ist es anders! Zu Hause braucht man alles. Auf einer Reise aber macht es nichts aus, wenn die (vorübergehende) Wohnung und die Möbel nicht so schön sind; denn schließlich ist man ja auf einer Reise.“
Wir können nun die Beziehung zwischen dem einfachen Sinn des Textes und seiner Auslegung verstehen: Jaakow „wohnte bei Lawan“ (Garti), weil für ihn materielle Dinge fremd waren, auf einer Ebene von Gerut; so störten oder behinderten sie sein geistiges Leben nicht und er konnte erreichen: „Ich habe die 613 (Tarjag) Mizwot eingehalten.“
III. Indem Jaakow die materiellen Belange in einem Zustand von Gerut, von Fremdheit, hielt, stellte er nicht nur sicher, dass sie sich nicht in das geistige Leben einmischten, sondern auch, dass eine Dimension der Spiritualität sogar in die Materie einfloss und diese in etwas Geistiges und Heiliges verwandelte.
So schließt die Passage ab: „Und ich habe (Li – wörtl. „es gibt für mich“) Ochsen und Esel, Herden und Knechte und Mägde.“7 All dies wurde Li – für mich, d. h., es wurde der eigentlichen Essenz [dem Geist] Jaakows untergeordnet.
IV. Der Midrasch8 kommentiert diesen speziellen Text: „Chamor (Esel) bezieht sich auf den königlichen Maschiach, von dem es heißt: „Niedrig und auf einem Esel reitend ...“9
Das Kommen des Maschiach hängt von der Awoda von Birurim ab.10 D. h., wenn jeder Jude seinen Körper, seine tierische Seele und seinen Teil in dieser Welt läutert11 und sie für heilige Zwecke einsetzt, wird er die für das zukünftige Zeitalter verheißenen Manifestationen herbeiführen.
Dieses Konzept wird durch die Abfolge der Verse angedeutet: „Ich habe bei Lawan gewohnt ... und ich habe Ochsen und Esel.“ Da Jaakow physische Objekte auf einer Ebene von Gerut betrachtete und sie als Werkzeuge für G-ttes Zwecke benutzte – wobei er das Wort Garti wörtlich nahm, dass G-ttes Gegenwart in ihnen wohnt – war er bereit und vorbereitet für den Maschiach: „Und ich habe ... Chamor – dies bezieht sich auf den königlichen Maschiach.“12
Deshalb schickte er Boten zu Esaw, um ihm mitzuteilen, dass er alle seine Birurim vollendet hatte und bereit für den Maschiach war. Jaakow ging davon aus, dass auch Esaw seine Birurim vollendet hatte,13 und dass die Erlösung nun auch von Seiten Esaws möglich war.
Die Boten antworteten jedoch: „Wir sind zu deinem Bruder, zu Esaw,14 gekommen: Was dich betrifft, so ist er bereits ‚dein Bruder‘, du bist bereit für die Erlösung; er aber ist seinerseits noch Esaw, er ist noch vor dem Birur, und so ist die Erlösung noch nicht möglich.“
V. Die Tora und ihre Anweisungen sind unvergänglich und für jeden Juden zu allen Zeiten und an allen Orten relevant. Die Lehre aus dem oben Gesagten lautet wie folgt:
Jeder Jude muss erkennen, dass seine Umgebung, die Welt, zwar kaum für die Erlösung bereit sein mag, weil sie noch nicht gereinigt und geläutert ist, er selbst aber dennoch sich und alles, was mit ihm in Verbindung steht – „Schafe und Knechte und Mägde“ – auf die vollständige Erlösung vorbereiten muss.
Diese Vorbereitung erfolgt durch das „Ich habe bei Lawan gewohnt“: die Erkenntnis, dass die ganze Welt nur Garti ist – „Ich bin ein Fremdling (Ger) auf Erden.“15
Ganz gleich, wie lange das Leben eines Menschen dauert, ob „70 Jahre oder sogar 80 Jahre aufgrund seiner Kraft“16 oder „Seine Tage werden 120 Jahre sein“17, diese Jahre sind nicht mehr als Garti, der vorübergehende Aufenthalt eines Fremden. Aus dieser Perspektive steht das Körperliche nicht im Widerspruch zum Geistlichen. In der Tat wird diese Haltung dazu führen, dass man „Ochsen und Esel, Herden und Knechte und Mägde“ hat – Wohlstand auch im physischen Sinne.
Indem er sich und alle seine Angelegenheiten auf die Erlösung vorbereitet, wirkt er in gleicher Weise auch auf die ganze Welt ein. Denn da die Welt im Gleichgewicht ist,18 wird eine gute Tat seinerseits die Waage zugunsten der ganzen Welt neigen und die Erlösung in der ganzen Welt herbeiführen.
So urteilt der Rambam:19 „Wenn Israel Teschuwa (Rückkehr zu G-tt) tut, wird es Mijad (sofort) erlöst werden“; und der Alte Rebbe fügt hinzu: Techef uMijad (auf der Stelle).20 Daraus folgt, dass man – unabhängig vom Zustand der Welt – durch Teschuwa sowohl eine persönliche Erlösung als auch die allgemeine Erlösung für die ganze Welt bewirken kann.
VI. Die G-ttliche Vorsehung lenkt alle Einzelheiten. Die Erlösung des Alten Rebben und Chassidut, am Jud-Tet Kislew 5559, fand in der Woche nach der Paraschat Wajischlach statt, die die erwähnte Botschaft enthält.21
Chassidut verleiht jedem Menschen die Kraft, sich nicht von den Missständen der Welt um sich herum abschrecken zu lassen, sondern persönlich die Awoda von „Ich habe bei Lawan gewohnt“ zu erleben – und so das „Und ich habe ... Chamor, den königlichen Maschiach“ zu erreichen.
Chassidut ist eine Vorbereitung und ein Instrument für die Manifestation des Maschiach; denn die Erfüllung von: „Es werden deine Quellen überströmen auf die Fluren“22 bewirkt, dass der Meister (der Maschiach) kommen wird – und zwar bald in unseren eigenen Tagen.
(Auszüge und adaptiert aus einer Sicha gehalten am Schabbat Paraschat Wajischlach 5716 und 5718)
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