IX. Die erste Ehe, die in der Tora beschrieben wird, ist die von Jizchak.1 Aber diese Beschreibung beschränkt sich auf die Vorbereitungen für die Hochzeit. Die erste Hochzeit, von der die Tora auch ausführlich über den Ablauf der Hochzeit selbst berichtet, ist die von Jaakow, „dem Auserwählten der Patriarchen.“2 Tatsächlich lernen wir aus dieser Erzählung verschiedene Gesetze über den Ablauf einer Hochzeit.
So leiten wir aus dem Vers „Erfülle die Woche mit dieser einen“3 zwei Gesetze ab:4 (a) das Gesetz, die „sieben Tage des Hochzeitsfestes“ zu feiern; und (b) dass eine Freude nicht mit einer anderen Freude vermischt werden darf, d. h., man darf eine Hochzeit nicht gleichzeitig mit einem anderen freudigen Ereignis feiern.
Es wurde ein Einwand erhoben:5 Dies scheint im Widerspruch zu dem Grundsatz zu stehen, dass „wir keine (Gesetze) aus Ereignissen lernen, die vor Matan Tora stattfanden.“6
Außerdem ist von den beiden genannten Regelungen das Gesetz der „sieben Tage des Hochzeitsfestes“ tatsächlich ein rabbinischer Erlass. Es gibt zwar die Meinung,7 dass die Feier des ersten Tages ein biblisches Gebot ist. Die anderen sechs Tage sind jedoch mit Sicherheit nur ein rabbinisches Dekret, weil wir keine explizite Auslegung haben; und dies kann mit dem zitierten Grundsatz erklärt werden, dass wir nicht aus Ereignissen vor Matan Tora lernen. Aber wie können wir aus demselben Vers noch das Gesetz ableiten, eine Freude nicht mit einer anderen zu vermischen, das – laut Tossafot8 – eine ausdrückliche Auslegung und ein biblisches Gebot ist?
X. Das Problem lässt sich lösen, indem man feststellt, dass der Grundsatz „Wir lernen nicht aus Ereignissen vor Matan Tora“ sich ausdrücklich auf Halachot (direkte rechtliche Regeln) bezieht, denn „als die Tora gegeben wurde, wurde die Halacha erneuert.“9 Elemente, die sich auf menschliche Charaktereigenschaften beziehen, können jedoch auch aus Ereignissen vor Matan Tora gelernt werden, denn in diesem Zusammenhang gibt es keinen Unterschied zwischen den Zeiträumen vor und nach Matan Tora.
Es besteht also eindeutig ein Unterschied zwischen den beiden genannten Gesetzen. Für die Feier der „sieben Tage des Hochzeitsfestes“ brauchen wir eine ausdrückliche Anweisung der Halacha. Dies ist jedoch nicht der Fall bei dem Gesetz, eine Freude nicht mit einer anderen zu vermischen. Aus den Ereignissen vor Matan Tora können wir etwas über die Charaktereigenschaften der Menschen lernen, und daraus ergibt sich das Gesetz, eine Freude nicht mit einer anderen zu vermischen, von selbst, wie in Kürze erklärt werden wird.
XI. Bei den Charaktereigenschaften gibt es zwei Möglichkeiten: (a) Wenn ein Mensch in einer bestimmten Stimmung ist, wie der der Freude, wird diese Freude, obwohl sie ihre eigene Ursache hat, auch die Freude verstärken, die durch etwas anderes verursacht wird, weil beide Freuden von der gleichen Natur, der gleichen Gemütsverfassung sind. Oder umgekehrt (b), wenn eine Person in einer freudigen Stimmung ist, aus welchem Grund auch immer, wird diese Freude eine andere Freude nicht nur nicht verstärken, sondern sie wird sie sogar beeinträchtigen. Obwohl beide Wirkungen die gleiche Stimmung aufweisen, haben sie unterschiedliche Ursachen; daher wird die eine die andere beeinträchtigen, und dies wird sich in den jeweiligen Wirkungen, d. h. in der ausgedrückten Freude, zeigen.
Die Lehre des Verses: „Erfülle die Woche mit dieser einen“ stimmt mit der zweiten Meinung überein. Daraus folgt, dass es nicht erlaubt ist, eine Freude mit einer anderen zu vermischen. Die Freude des Bräutigams und der Braut erfordert, wie jede andere Mizwa-Freude, eine völlige „Anwesenheit“ und Beteiligung an diesem Ereignis. Denn eine Mizwa bedeutet, den G-ttlichen Willen zu erfüllen, was der Mensch mit seinem eigenen Willen tun muss: „Mache Seinen Willen zu deinem Willen“10 ; denn dann ist der Mensch wirklich „dort“, wie der Baal Schem Tow sagte, dass das Wesen des Menschen dort ist, wo sein Wille ist.11 Die Freude über eine Mizwa muss also die ganze Seele des Menschen einbeziehen. Da wir wissen, dass die Freude des Bräutigams und der Braut eine Freude sein muss, die das ganze Wesen einbezieht, lernen wir (aus diesem Ereignis vor Matan Tora), dass in der menschlichen Psychologie eine Freude die andere beeinträchtigt. Daher wissen wir auch, dass man die Freude über eine Mizwa nicht mit der Freude über eine andere Mizwa vermischen darf, denn das würde die Freude über die erste Mizwa beeinträchtigen und schmälern.
XII. Im Zusammenhang mit unserem spirituellen Leben bedeutet dies Folgendes: Vor Matan Tora konnten die Patriarchen durch ihre Awoda bis zur Quelle des Menschen vordringen.12 Das ist die größte Vollkommenheit, die der Mensch aus eigener Kraft erreichen kann. Ihre Awoda war jedoch eine spirituelle Awoda13 aufgrund des Dekrets, dass „die Bürger Roms nicht nach Syrien hinabsteigen und die Bürger Syriens nicht nach Rom hinaufsteigen dürfen“, wie es im Midrasch Rabba heißt.14 Zur Zeit von Matan Tora wurde dieses Dekret aufgehoben: Der Allmächtige selbst sagte: „Ich werde beginnen“, und so heißt es: „Und der Ewige stieg auf den Berg Sinai herab“15, „Und zu Mosche sagte Er: Komm herauf zum Ewigen.“16
So kann man nun, nach Matan Tora, die Essenz von Ejn Sof erreichen und sich mit ihr vereinen, sogar durch einen physischen Gegenstand. Denn diese [Vereinigung] liegt in Seiner Macht – „Und Ich will beginnen.“
Das ist die Bedeutung von „Wir lernen nicht aus Ereignissen, die vor Matan Tora stattfanden“, denn „als die Tora gegeben wurde, wurde die Halacha erneuert.“ Vor Matan Tora gab es verschiedene Mittel, um in einem begrenzten Umfang höher zu gelangen. Nach Matan Tora, „als die Tora gegeben und die Halacha erneuert wurde“, gibt es neue Mittel – einschließlich physischer Objekte –, um sich sofort von der größten Tiefe zur größten Höhe zu bewegen.17
Aber auch aus den Ereignissen vor Matan Tora kann man Dinge lernen, die die menschliche Psychologie betreffen. Denn durch die Erfüllung von Tora und Mizwot sollen wir die Fehler und die Unkorrektheiten, die Matan Tora vorausgingen, läutern und berichtigen – um den Aspekt von Schewirat haKelim,18 die Sünde am Baum der Erkenntnis und die anderen Verstöße zu korrigieren, denn die Sünde mit dem goldenen Kalb verursachte eine Wiederaufnahme der Unreinheit, die ursprünglich von der Schlange verursacht worden war.19 Die psychologischen Charakterzüge vor Matan Tora bleiben also relevant. Da diese geläutert werden müssen, müssen wir wissen, womit wir es zu tun haben. All dies bezieht sich jedoch auf den zu läuternden Gegenstand. Was denjenigen betrifft, der die Läuterung durchführt, und was die Mittel der Läuterung betrifft,20 lernen wir nicht aus der Zeit vor Matan Tora; denn als die Tora gegeben wurde, wurde die Halacha erneuert.
XIII. Der Monat Kislew ist ein Monat der Erlösung und der Wunder.21 In diesem Monat offenbarten uns unsere Meister und Anführer Pnimijut haTora in umfassender Weise, und dies wiederum verleiht Galja deTora (dem exoterischen Teil der Tora) und der Erfüllung von Mizwot Lebendigkeit und Begeisterung.22 Das Studium von Galja deTora und der Enthusiasmus bei der Erfüllung von Mizwot (und als direkte Folge davon das „Schmücken“ einer Mizwa23 ) ist ganz anders, wenn man Pnimijut haTora kennt, als wenn man sie nicht kennt. Das Wissen um Pnimijut haTora verleiht Nigle und der Ausübung der Mizwot Vitalität und Freude.
So können wir in Umschreibung sagen: „Als Pnimijut haTora offenbart wurde, wurde die Halacha – d. h. die Wege der Halicha (das Gehen; die Art und Weise)24 im G-ttlichen Dienst – erneuert.“ Es gibt Dinge, die vor der Offenbarung von Pnimijut haTora überhaupt nicht oder nur für einige wenige erreichbar waren, oder die extreme Anstrengungen auf den verschiedenen „Wegen und Straßen des Lebens“ erforderten. Aber jetzt, da die Tora gegeben wurde und die Halicha auf dem „Königsweg“25 erneuert wurde, sind diese für alle Juden durch das Studium von Pnimijut haTora und das Befolgen ihrer Anweisungen, einschließlich des Elements der Freude, erreichbar.
Denn Freude war eine der Forderungen des Baal Schem Tow:26 „Dienet dem Ewigen mit Freude.“27 Tatsächlich wurde dies schon früher betont, denn es ist bekannt, dass R. Jizchak Luria die Kraft von Ruach haKodesch (heiliger Geist) aufgrund seiner großen Freude bei der Erfüllung von Mizwot verdiente.28
Es wurde erklärt, dass wir Charaktereigenschaften aus Ereignissen vor Matan Tora lernen, weil wir verpflichtet sind, uns mit Dingen zu befassen, die damals geschehen sind. Dies ist auch für den Kontext von Pnimijut haTora relevant. Wie bekannt, gibt es in unseren Generationen kaum neue Seelen, die zum ersten Mal herabsteigen. Die meisten der gegenwärtigen Seelen wurden reinkarniert, um frühere, noch nicht beendete Aufgaben zu vollenden, insbesondere beim Studium der Tora. Denn im Schulchan Aruch haRaw, Hilchot Talmud Tora,29 ist festgelegt, dass es sein kann, dass man viele Reinkarnationen durchläuft, bis man alle Mizwot und das Studium der Tora in all ihren Aspekten von Pschat (einfache Bedeutung), Remes (Anspielung), Derusch (Homiletik) und Sod (esoterische Bedeutung)30 abgeschlossen hat – „in dem Ausmaß, wie es seiner geistigen Kapazität und der Himmlischen Wurzel seiner Seele entspricht.“31 Dies ist also der einzige Weg für die Seele, sich im „Band des Lebens mit dem Ewigen“ zu vervollkommnen,32 in ihrer Quelle, aus der sie hervorgegangen ist.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am 2. Kislew 5714)
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