VI. Der Rebbe, mein Schwiegervater, sprach oft darüber, wie sehr ein Jude mit der Tora verbunden ist und wie die Einteilung der Tora in wöchentliche Lesungen ihm praktische Anweisungen für die Ereignisse der jeweiligen Woche gibt.1
VII. In der Sidra dieser Woche (Lech Lecha) wird uns von der Geburt von Jischmael und Jizchak berichtet.
Eltern wünschen und hoffen natürlich, dass ihre Kinder ihre Werte und ihre Lebensweise fortsetzen werden. In diesem Zusammenhang erzählt uns unsere Sidra, dass G-tt Awraham zwei Kinder schenkte, zuerst Jischmael und dann Jizchak.
Als Awraham Jizchak versprochen wurde, hatte er bereits einen Sohn, nämlich Jischmael. So antwortete Awraham G-tt: „Ich bitte, dass Jischmael vor Dir leben möge.“2 Awraham wäre auch dann zufrieden gewesen, wenn Jizchak nicht geboren worden wäre, vorausgesetzt, dass Jischmael „vor Dir leben“ würde – d. h., sich so verhalten würde, wie er es sollte, und den G-ttlichen Lebensweg verfolgen würde.3
Doch der Allmächtige antwortete: Nein! Es ist wichtig, dass du Jizchak hast, denn er wird deine wahre Freude sein. Und was dein Gebet in Bezug auf Jischmael betrifft – „Ich habe dich in Bezug auf Jischmael erhört“4 und du wirst auch an ihm Freude haben; aber du darfst dich mit dieser Freude nicht zufriedengeben, denn nur „durch Jizchak soll dein Same genannt werden.“5
VIII. Awraham war 99 Jahre alt, als ihm Jizchak versprochen wurde. Jahrzehntelang hatte er G-tt gedient und viele Prüfungen erlebt. Zweifellos hatte er eine richtige Vorstellung davon, was wahre Freude an Kindern bedeutet. Als er betete, dass Jischmael „vor Dir leben möge“, meinte er, dass Jischmael die Art von Leben leben möge, die Awraham ihm zeigen würde, und zwar in einer Weise, die die Art von Freude bringen würde, die Awrahams Erwartungen entsprach. Dennoch sagte G-tt ihm, dass seine wahre Freude nur durch Jizchak kommen würde.6
Der Midrasch berichtet, dass Hagar, die Mutter von Jischmael, eine sehr fromme Frau war. Ihr Verhalten wird mit dem Dienst im Tempel verglichen, und deshalb wurde sie Ketura7 genannt. Außerdem besaß Hagar die Tugend von Mesirat Nefesch. Denn unsere Weisen sagen uns,8 dass sie die Tochter des Pharao, des Königs von Ägypten war – also des Herrschers eines der mächtigsten Reiche jener Zeit. Dennoch beschloss sie, ihren königlichen Palast zu verlassen und Sara als Magd zu dienen, um in den Haushalt Awrahams aufgenommen zu werden. Sicherlich zog sie ihren Sohn Jischmael in demselben Geist auf.
Dies erklärt, warum Awraham mit Jischmael recht zufrieden war und darauf vertraute, dass er ihm volle Zufriedenheit bringen würde. Andererseits wird es dadurch umso schwieriger zu verstehen, warum G-tt sagte: „Nur durch Jizchak soll dein Same genannt werden.“
IX. Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Jischmael und Jizchak. Die Geburt Jischmaels war ein natürliches Ereignis, ohne dass ein Wunder geschah, während die Geburt Jizchaks ein Wunder war. Es war nicht möglich, dass Awraham und Sara, die schon so alt waren, ein Kind zur Welt brachten. Niemand glaubte daran, und selbst Awraham hielt sich nicht für würdig, dass G-tt ein solches Wunder für ihn tat.
Dies führte zu einem weiteren Unterschied zwischen Jischmael und Jizchak, der sich auf das Gebot der Beschneidung bezog, die einzige Mizwa, die vor Matan Tora eine besondere Verbindung mit dem Allmächtigen begründete.
Jischmael wurde beschnitten, als er dreizehn Jahre alt war. Im Alter von dreizehn Jahren hat ein Junge genügend Vernunft, um für sein Verhalten zur Rechenschaft gezogen zu werden und somit verpflichtet zu sein, die Mizwot zu befolgen.9 Jischmael nutzte also seine Vernunft, um seine Bereitschaft zu festigen, in den Bund mit G-tt einzutreten, und akzeptierte die Beschneidung.
Jizchak wurde beschnitten, als er acht Tage alt war. Ein so junger Säugling kann nicht einwilligen, dennoch war er in diesem frühen Alter mit G-tt verbunden. Diese Art von Bindung kann niemals gelöst und ausgelöscht werden; sie ist ewig, denn die Tora nennt sie „einen ewigen Bund.“10
X. Es gibt also zwei Unterschiede zwischen Jischmael und Jizchak: (1) Jizchaks übernatürliche, wundersame Geburt im Gegensatz zu Jischmaels natürlicher Geburt; und (2) Jizchaks Bund mit G-tt auf übernatürliche Weise im Gegensatz zu Jischmaels Bund, der auf Vernunft beruhte. Jetzt können wir verstehen, warum Awrahams wahre Freude nur durch Jizchak kommen konnte. Normalerweise wird ein Kind geboren und wächst unter der Aufsicht seiner Eltern auf, die es vor jedem Schaden bewahren. Es wird erzogen, um ein richtiges Verständnis zu erlangen, was wiederum dazu führt, dass es sich mit G-tt verbindet. Dies ist der Weg von Jischmael. Er wurde im Hause Awrahams aufgezogen und erhielt eine Erziehung, die ihn verstehen ließ, dass er sich an G-tt binden sollte.
Dieser Lebensweg bietet jedoch keine Sicherheiten. Wenn das religiöse Engagement (Jiddischkeit) ausschließlich auf Vernunft beruht, können wir nicht vorhersagen, wie es von den Variablen des Lebens beeinflusst wird. Darüber hinaus können wir auch vor jeglichen Veränderungen im Leben nicht das Ausmaß des religiösen Engagements vorhersagen – ob es allumfassend oder lediglich auf das beschränkt ist, was die endliche Vernunft akzeptiert.
So finden wir bei Jischmael, dass er, sobald es um sein Erbe ging,11 nicht mehr im Haus Awrahams bleiben konnte, und G-tt sagte, er solle ihn wegschicken, denn: „Durch Jizchak soll dein Same genannt werden.“12
Der Allmächtige lehrte uns: Um die jüdische Kontinuität herzustellen, kann man nicht mit rein natürlichen Berechnungen beginnen. Die Existenz und der Zweck des jüdischen Volkes selbst gehen über die Natur hinaus. Das Leben des Juden ist von Geburt an mit Wundern und dem Außer-Acht-Lassen des Laufs der Natur verwoben.
G-tt sagte zu Awraham: Wahre jüdische Freude kann nur von einem Kind kommen, dessen Geburt – und dessen ganzes Leben von Geburt an – in einem G-ttlichen Zusammenhang steht; ein Kind, das bei der frühesten Gelegenheit, d. h. im Alter von nur acht Tagen, durch einen „ewigen Bund“ mit G-tt verbunden wird, auch wenn das Kind in diesem Stadium noch kein Verständnis hat und keine Zustimmung geben kann. Das religiöse Engagement (Jiddischkeit) eines solchen Kindes beschränkt sich nicht auf die Vernunft, sondern bewegt sich auf der Ebene von Mesirat Nefesch, der totalen Hingabe, und verursacht so wahre jüdische Freude.
XI. Die Tora ist, G-tt bewahre, kein Geschichtslehrbuch.
Die Tora ist von ewiger Relevanz, wie die Tatsache zeigt, dass wir jedes Jahr aufs Neue mit der Lektüre der Tora beginnen, und zwar ab Bereschit. Die Erzählungen in der Tora geben dem Juden Anweisungen, wie er sich in seinem Haus, in der Gesellschaft und in der Gemeinschaft verhalten soll – zu allen Zeiten und an allen Orten.
Das gilt auch für die Erzählung unserer Sidra. Sie bietet Anweisungen für das Leben im Allgemeinen und für das wichtigste Thema der jüdischen Erziehung im Besonderen.
XII. Manche sind der Meinung, dass der Erziehungsprozess erst dann beginnen sollte, wenn das Kind bereits reif ist und selbst verstehen kann, wie es sich zu verhalten hat. Sie hoffen, dass ihre Kinder die Jiddischkeit instinktiv begreifen, weil sie ja Nachkommen von Awraham, Jizchak und Jaakow sind.
Unsere Sidra kommt also, um uns zu lehren: Der menschlichen Vernunft zu folgen, ungeachtet der aufgewendeten Mühe, ist nicht der Weg, der zu einer Verbindung mit G-tt führt. Mesirat Nefesch ist der einzige Weg, der zu diesem Ziel führt.
XIII. Es gibt eine weitere Lektion. Die Erziehung kann nicht mit einer verwässerten Form der Jiddischkeit beginnen, selbst wenn man beabsichtigt, mehr hinzuzunehmen, wenn das Kind älter wird. Diese Art von Herangehensweise mag in Angelegenheiten, die ausschließlich von rationalen Berechnungen bestimmt werden, angemessen sein. Das jüdische Volk wird jedoch nicht von natürlichen Überlegungen geleitet. Die Geschichte von Jizchaks Beschneidung lehrt uns den richtigen Weg für eine angemessene jüdische Erziehung: Wenn das Kind erst acht Tage alt ist, muss ihm bereits das stärkste Maß an Jiddischkeit vermittelt werden. In diesem frühen Stadium soll das Kind bereits mit einem ewigen Band an G-tt gebunden werden, das nicht ein Jahr, zehn oder zwanzig Jahre dauert, sondern „ein ewiger Bund“ ist.
XIV. Was meinen wir, wenn wir sagen, dass auch Kindern das stärkste Maß an Jiddischkeit vermittelt werden muss? Unserer Jugend muss von frühester Kindheit an gesagt und zu verstehen gegeben werden, dass das jüdische Volk im Allgemeinen und somit jeder Jude im Besonderen nicht natürlichen Erwägungen unterworfen ist.
Unserer Jugend muss gesagt werden, dass alle Berechnungen beiseite gelassen werden müssen. Sie sind die Nachkommen eines Volkes, das sich seit seinen Anfängen nicht auf natürliche Weise entwickelt hat. Sie sind die Nachkommen des ältesten Volkes, das im Besitz der ältesten Lehre (Tora) ist und so viele Jahre der Prüfungen und Entbehrungen durchgemacht hat, dass seine bloße Existenz ein Wunder ist. Der Nachkomme eines solchen Volkes ist keiner Berechnung unterworfen und braucht sich nicht darum zu kümmern.
Wenn wir die Kinder von frühester Kindheit an auf diesem Weg begleiten, wenn wir ihnen helfen zu erkennen, dass ein Jude nicht von gewöhnlichen Erwägungen beeinflusst wird und mit G-tt durch ein ewiges Band verbunden ist, dann wird uns der Allmächtige versichern: „Durch Jizchak soll dein Same genannt werden“ – d. h., dass wir wahre Freude im geistigen und körperlichen Sinne ernten werden.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am 6. Marcheschwan 5718)
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