I. Die Mischna lehrt, dass Awraham durch zehn Prüfungen getestet wurde.1 Eine der ersten, und vielleicht eine der schwierigsten, war die Prüfung in Ur Kasdim.2 Allerdings wird diese Prüfung in der Tora nur angedeutet3 und nicht ausdrücklich erwähnt. Die erste Prüfung, die ausdrücklich erwähnt wird, ist diese: „Geh aus deinem Land und aus deinem Geburtsort und aus dem Haus deines Vaters.“4
Der Grund dafür könnte sein, dass der Aspekt „Geh aus deinem Land ...“ für die Awoda jeder Person gilt – auf der Ebene von Milemala leMata, auf der Ebene von Milemata leMala5 und auf der Ebene von Mata selbst.6
II. Kurz gesagt bedeutet dies:
Der Abstieg der Seele [von Oben] in den Körper [in dieser niederen Welt] beinhaltet zwei gegensätzliche Konzepte. Auf der einen Seite gibt es das Prinzip: „Du lebst gegen deinen eigenen Willen“7, d. h., das Leben der Seele in einem Körper wird der Seele „aufgezwungen“. Bevor die Seele in den Körper hinabsteigt, heißt es, sie sei „von unten aus dem Thron der Herrlichkeit gehauen.“8 Doch selbst das ist nur der niedrigste Aspekt der Seele; es gibt einen höheren Aspekt, aufgrund dessen die Seele als „sie ist rein“9 bezeichnet wird, und es gibt noch erhabenere Aspekte und Ebenen.
Der Abstieg der Seele in diese Welt bedeutet für sie eine Erniedrigung. Der Rebbe (mein Schwiegervater) erklärte einmal,10 dass der Seele vor ihrem Abstieg Gan Eden und Gehinnom gezeigt werden, um ihr ihre Aufgabe in dieser Welt bewusst zu machen. In diese Welt geschickt zu werden, um einen Körper zu beleben, wird der Seele also „aufgezwungen“ – „Du lebst gegen deinen eigenen Willen.“
Andererseits ist dieser Abstieg trotz dieser anfänglichen Erniedrigung der einzige Weg, auf dem die Seele eine Stufe erreichen kann, die ihrem ursprünglichen Zustand weit überlegen ist, wie die bekannte Maxime besagt:11 „Ein Abstieg zum Zweck des Aufstiegs.“
III. Auf diese beiden Aspekte spielt der Vers an: „Geh aus deinem Land und aus deinem Geburtsort und aus dem Hause deines Vaters in das Land, das Ich dir zeigen werde.“
„Aus deinem Land“ bezieht sich auf die Seele auf der Ebene des Höchsten Willens (Razon haEljon). Dies ist eine höhere Ebene als die, die in Tanja, Kapitel 2, besprochen wird, d. h., dass die Seele von der Höchsten Chochma abstammt, die in absoluter Einheit mit G-tt ist, denn Razon (Wille) geht über Chochma hinaus.12
(Dies ist auch die Bedeutung der Aussage in Tanja, Kapitel 32: „Sie sind alle von einer Art und haben alle einen Vater“: „Sie sind alle von einer Art“ bezieht sich auf den Aspekt von Razon; „alle haben einen Vater“ bezieht sich auf den Aspekt von Chochma.)
„Aus deinem Geburtsort und aus dem Haus deines Vaters“ bezieht sich auf die Seele auf der Ebene der Sefirot Chochma und Bina. Denn eine Geburt setzt Eltern voraus – einen Vater und eine Mutter – und im Konzept der Sefirot wird Chochma durch den Begriff „Vater“ und Bina durch den Begriff „Mutter“ repräsentiert.13
„Dein Geburtsort“ bezieht sich auf die Seele auf der Ebene der Sefira von Chochma, und „das Haus deines Vaters“ bezieht sich auf die Seele auf der Ebene der Sefira von Bina. Denn Aw (Vater) ist Chochma, während „Haus deines Vaters“ (d. h. ein Haus und Gefäß für Aw) Bina ist.
Aus einer anderen Perspektive: „Dein Geburtsort“ kann auch so interpretiert werden, dass er den beiden Sefirot von Chochma und Bina entspricht – die zusammen die Geburt bewirken, während „Haus deines Vaters“ der Seele auf der Ebene der Sefira von Malchut entspricht.
Aus einer noch anderen (und niedrigeren) Perspektive: Die drei Begriffe „aus deinem Land und aus deinem Geburtsort und aus dem Haus deines Vaters“ beziehen sich jeweils auf Bina, Se-ir Anpin und Nukwa.14
Diese drei Ebenen in der Seele können auch in Begriffen der Hierarchie der Welten ausgedrückt werden: „Aus deinem Land“ bezieht sich auf die Seele auf einer Ebene jenseits von Azilut. „Aus deinem Geburtsort“ bezieht sich auf die Seele in Azilut; denn Azilut ist die Quelle aller Seelen,15 und Chochma – das Jud des Tetragrammatons16 – erstrahlt in Azilut.17 „Das Haus deines Vaters“ bezieht sich auf die Seele, wenn sie in die Welt von Beria hinabsteigt; denn in Beria ist es die Sefira von Bina, die erstrahlt,18 und Malchut von Azilut bildet Keter von Beria.19
Der Seele wird also gesagt: „Geh aus deinem Land und aus deinem Geburtsort und aus dem Haus deines Vaters“ – Steige von deiner Wurzel und Quelle in allen erwähnten Ebenen herab, um „in das Land zu gehen, das Ich dir zeigen werde“ – d. h., um dich in einen irdischen, physischen Körper zu kleiden. Denn nur in diesem physischen Körper wird die Seele ihren erhabensten Aufstieg erreichen.
Ebenso sagen wir in den Segenssprüchen am Morgen: „Die Seele, die Du mir gegeben hast, sie ist rein ... Du behütest sie in mir.“ Die Formulierung „sie ist rein“ bezieht sich auf die Seele, wie sie in der Welt von Azilut ist, während „die Du mir gegeben hast“ sich auf eine erhabenere Ebene bezieht. Aber die Seele wird von dort herabgesenkt zu „Du hast sie erschaffen“ – die Welt von Beria, und zu „Du hast sie geformt“ – die Welt von Jezira, wahrlich hinunter zu „Du hast sie mir eingehaucht“ – der physische Körper.
Die Ebene des „Du hast sie mir eingehaucht“ ist wesentlich, um das „Du behütest sie in mir“ zu erreichen. Letzteres geht weit über die Ebene von „sie ist rein“ und sogar über die Ebene von „die Du mir gegeben hast“ hinaus; denn der Wächter ist im Prinzip stärker als das, was er bewacht.
Dies ist die Bedeutung von „in das Land, das Ich – der Allmächtige selbst – dir zeigen werde.“ Denn nur hier unten, in dieser Welt, ist es möglich, die G-ttliche Essenz zu erfassen. So wird in Tanja, Kapitel 4, erklärt, dass kein Gedanke Ihn erfassen kann, wenn er nicht in Tora und Mizwot verankert ist – die nicht im Himmel,20 sondern ausdrücklich in dieser physischen Welt sind.
IV. Wenn die Seele die Aufgabe „Geh hinaus aus deinem Land“ – Milemala leMata (abwärts) – vollendet, indem sie von all ihren erhabenen Ebenen herabsteigt und in den physischen Körper eintritt, erhält sie die Fähigkeit, das „Geh hinaus ... in das Land, das Ich dir zeigen werde“ im zweiten Sinne zu verwirklichen, d. h. Milemata leMala (aufwärts).
Der Jezer haRa (böse Neigung) ist der erste, der in den Menschen eindringt und ihn von dem Moment an anstiftet, in dem das Kind aus dem Mutterleib hervorkommt.21 Daher braucht der Mensch eine besondere Kraft, um ihn zu überwinden. Die Seele erhält diese besondere Kraft, wenn sie herabsteigt. Mit Hilfe dieser Kraft kann die Seele Arzecha (dein Land) verlassen – ein sprachlicher Anklang an Raza (wollen, verlangen),22 d. h. die (weltlichen) Wünsche der tierischen Seele; und „dein Geburtsort“ – d. h. die natürlichen Annahmen eines Menschen, die von seinem weltlich orientierten Intellekt und seinen weltlich orientierten Emotionen herrühren; und „das Haus deines Vaters“ – d. h., all jene Vorstellungen, die von falscher Erziehung und falschen Gewohnheiten herrühren.23 Man muss all dies verlassen und „in das Land gehen, das Ich dir zeigen werde“ – d. h. die Orte der Anbetung und des Tora-Studiums, wo die Wünsche der G-ttlichen Seele vorherrschen. Dies wird die natürlichen, weltlich orientierten Wünsche, die Annahmen des natürlichen, weltlich orientierten Intellekts und der Emotionen sowie die Gewohnheiten der tierischen Seele aufheben.
V. Wenn die Seele diese Erfahrung in der Awoda vervollständigt – das „Land“, den „Geburtsort“ und das „Haus deines Vaters“ der tierischen Seele zu verlassen – muss sie die noch höhere Awoda unternehmen und dieselben Kategorien der G-ttlichen Seele verlassen:
„Aus deinem Land“ – d. h. aus den Wünschen [Razon] der G-ttlichen Seele; „aus deinem Geburtsort“ – d. h. aus der Weisheit [Chochma] der G-ttlichen Seele; „aus dem Haus deines Vaters“ d. h. aus der Kontemplation [Bina] im Bereich der Heiligkeit;24 zu gehen „in das Land, das Ich dir zeigen werde“ – d. h. eine Ebene zu erreichen, die Verstand und Vernunft übersteigt, die Ebene einer Wahrnehmung und Vision von Chochma – Pnimijut Abba – die den Intellekt übersteigt, sogar den Intellekt von Chochma.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am 13. Tammus 5714)
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