IV. Die „bösen Wasser“ der Sintflut bestehen aus zwei Teilen: Tehom Rabba (der große Abgrund) und Arubot haSchamajim (Fenster des Himmels).1 Auch die Störungen und Ängste, die den Menschen plagen, lassen sich in diese beiden Teile aufteilen.
Tehom Rabba bezieht sich auf die Ängste der niederen, physischen Dinge – z. B. die Sorge um den Lebensunterhalt usw. Arubot haSchamajim bezieht sich auf Ängste, die durch erhabene, spirituelle Angelegenheiten verursacht werden – z. B. gemeinschaftliche Aktivitäten usw., die trotz ihres erhabenen Zwecks das Studium der Tora und die Einhaltung von Mizwot beeinträchtigen.
In der Tat muss man sich an gemeinschaftlichen Aktivitäten beteiligen, aber dies sollte nicht mit dem Studium der Tora und der Einhaltung von Mizwot kollidieren. Denn die Mizwot bewirken: „Ihr, die ihr dem Ewigen, eurem G-tt, anhangt, seid heute alle am Leben.“2 Die Mizwot binden diejenigen, die sie befolgen, an G-tt3 und ziehen dadurch eine G-ttliche Lebenskraft auf sie herab. Aber wenn ihre Einhaltung mangelhaft ist, was nützt dann alles gemeinschaftliche Engagement, wenn man nicht befolgt, was im Schulchan Aruch vorgeschrieben ist!
Die Selbstrechtfertigung, sich mit den „Fenstern des Himmels“, d. h. mit geistlichen Angelegenheiten zu beschäftigen, ist völlig abwegig. Dieses Argument hat seinen Ursprung nicht in der G-ttlichen Seele, sondern in der tierischen Seele.4 Die Tatsache, dass diese Beschäftigung ein Hindernis für das Studium der Tora und die Einhaltung von Mizwot ist, wie es der Schulchan Aruch vorschreibt, zeigt deutlich, dass sie im Widerspruch zur Heiligkeit steht. Zugegeben, im Moment ist er mit den „Fenstern des Himmels“ beschäftigt; aber da die Beschäftigung vom Gegenteil der Heiligkeit ausgeht, wird er schließlich fallen und weiter fallen, G-tt bewahre, bis die Arubot haSchamajim zu Tehom Rabba werden – die „Fenster des Himmels“ zu einem „großen Abgrund.“
V. Der Weg, den „Wassern der Sintflut“ zu begegnen, ob sie nun von der Tehom Rabba oder von den Arubot haSchamajim stammen, ist, „Komm … in die Tewah (Arche).“5 Der Baal Schem Tow interpretierte den Begriff Tewah so, dass er sich auf die Worte der Tora und des Gebets bezieht.6 „In die Tewah kommen“ bedeutet also, in die Buchstaben der Tora und des Gebets „einzutreten“, sich von ihnen umgeben zu lassen, denn dann kann man sicher sein, dass einen nichts überflutet und „Noach, der Gerechte“7 mit seinen Angehörigen unversehrt bleibt.
Deshalb verlangt die Ordnung des Tages, dass man nach dem Aufwachen, bevor man in die Welt – d. h. in die „bösen Wasser“ – eintritt, als erstes sagt: „Mode Ani Lefanecha – ich danke Dir ..., dass Du mir meine Seele wiedergegeben hast“8, indem man anerkennt,9 dass das Leben der Seele vollständig von G-tt kommt. Danach rezitiert man die Segenssprüche des Morgens und dankt G-tt für jede Einzelheit: „Der die Nackten kleidet“ und so weiter.
Einige dieser Segenssprüche sind erklärungsbedürftig. Schließlich hat der Mensch bereits Kleidung zum Anziehen; warum dann der Segen „Der die Nackten kleidet“ – und die anderen ähnlichen Segenssprüche?
Doch unsere Weisen sagen: „Wer ist ein weiser Mensch? Derjenige, der erkennt, was im Begriff ist, zu geschehen“10, d. h. was jeden Augenblick aus dem Nichts erschaffen wird.11 Mit anderen Worten, er weiß, dass alles, was existiert, ständig von der G-ttlichkeit ins Leben gerufen wird.
So berichtet der Sohar,12 dass R. Jesse der Ältere betete, dass G-tt ihn mit Nahrung versorgen möge; d. h., selbst wenn seine Mahlzeit vor ihm stand, aß er nicht, bis er dieses Gebet gesprochen hatte. Das wirft die Frage auf: Welchem Zweck dient ein solches Gebet, wenn das Essen schon da ist, und alles vorbereitet wurde?
Es liegt jedoch in der Natur jeder geschaffenen Substanz, immer wieder in das Nichts zurückzukehren, das sie vor ihrer Erschaffung war. Die Tatsache, dass z. B. das Essen weiterhin existiert, liegt daran, dass G-tt in Seiner Güte es ständig erneuert, wie es geschrieben steht: „In Seiner Güte erneuert Er täglich, unablässig das Schöpfungswerk.“13 Das Gebet um Nahrung bleibt also auch dann noch aktuell, wenn das Essen bereits auf dem Tisch steht, ebenso wie bei allen anderen Bedürfnissen. Denn die Nahrung, die eben noch da war, hat sich (naturgemäß) bereits in ein Nichts verwandelt, so dass das Gebet um die Erneuerung durch G-tt notwendig ist, um den Menschen mit seinen Bedürfnissen zu versorgen.
Mit dem Gebet zu beginnen bedeutet, sich bewusst zu machen, dass das physische Objekt keine eigene Existenz hat und dass die Existenz des Universums nur dazu dient, die G-ttliche Absicht „Ich habe es zu Meiner Ehre erschaffen“ usw. zu verwirklichen.14 Diese Art des Bewusstseins ermöglicht es dem Menschen, mit allen Angelegenheiten dieser physischen Welt umzugehen, ohne Angst vor den „bösen Wassern“ zu haben.
Vor dem Gebet geht man jedoch ganz natürlicherweise davon aus, dass die Welt ein Selbstzweck ist,15 dass sie eine unabhängige Existenz hat. So geht man davon aus, dass all die Dinge, die die Tora erlaubt, zweifellos erlaubt sind. Was die Dinge betrifft, bei denen man nicht sicher ist, ob sie verboten sind – auch sie werden als erlaubt angenommen; denn alles kann auf der dazugehörigen Chasaka (Annahme des Status quo) beruhen, und schließlich ist die allgemeine Annahme vor dem Gebet die „Weltlichkeit.“
Andererseits, wenn die Prämisse ist, dass es keine Realität außer der von G-tt gibt und dass Er die Welt aus dem absoluten Nichts heraus erneuert zu dem Zweck: „Der Heilige, gesegnet sei Er, wollte sozusagen eine Wohnstätte in den unteren (Welten) haben“16 – dann wird „Realität“ als das definiert, was zur Verwirklichung dieses Zwecks führt.
Daraus ergibt sich wiederum eine ganz andere Schlussfolgerung: Das, was verboten ist – und damit im Widerspruch zur G-ttlichen Absicht steht – ist absolut verboten. Darüber hinaus ist auch überflüssiger Luxus verboten. Sollte der Jezer haRa argumentieren, dass „dies wesentlich ist“, muss man ihm antworten: „Beweise, dass es wesentlich ist! Denn die letztendliche Annahme ist, dass es nur das G-ttliche gibt, und daher „liegt die Beweislast bei demjenigen, der etwas von einem anderen fordert.“17
Ein chassidischer Grundsatz besagt: Alles, was verboten ist, ist verboten; selbst das, was erlaubt ist, ist unnötig!
Das ist die Bedeutung von „Komm in die Tewah“: Komm in die Tewot (Worte) von Tora und Gebet, um immer von ihnen umgeben zu sein. Wenn der Mensch akzeptiert, dass Tora und Gebet die Hauptwirklichkeit sind und dass alle anderen Angelegenheiten diesen untergeordnet sind, dann ist sogar die Beschäftigung mit den körperlichen Belangen usw. selbst eine Form von Awoda, oder zumindest förderlich für Awoda. Schließlich braucht der Mensch einen gesunden Körper, um richtig zu funktionieren.
Die einzige Möglichkeit, sich von den Wassern der Sintflut zu befreien, sei es von Tehom Rabba oder von den Arubot haSchamajim, besteht darin, „in die Tewah zu kommen.“ Denn dann wird man von den Dingen befreit, die nicht heilig sind, und man stellt alle Bedürfnisse und Angelegenheiten in den Kontext von „Erkenne Ihn auf all deinen Wegen.“18
VI. Das bedeutet nicht, dass man sich in eine Tewah – d. h. in Worte der Tora und des Gebets – einschließen und alle anderen ignorieren sollte, indem man behauptet: „Ich habe meine eigene Seele gerettet.“
Ganz im Gegenteil. Die Tora sagt mit Nachdruck: „Komm in die Tewah, du und deine Söhne und deine Frau und die Frauen deiner Söhne“19, d. h. nicht nur du selbst, sondern auch alle Mitglieder deines Haushalts und auch „deine Söhne“ – d. h. „deine Schüler.“20 Damit sind alle Juden gemeint, denn alle sind in das Prinzip „deine Frau“ oder „deine Söhne“ einbezogen. Der Begriff „Frau“ symbolisiert das Konzept eines Empfängers.21 Da alle Juden zusammen eine singuläre Struktur bilden,22 folgt daraus, dass jeder etwas von einem anderen empfängt und somit ein Empfänger ist.
Jeder muss also in die Arche aufgenommen werden. Man muss alle Juden überreden und beeinflussen, in die Worte der Tora und des Gebets einzutreten.
Bevor die Tora gegeben wurde, war es wahrscheinlicher, dass ein Mensch irrte, indem er dachte: „Jemand anderes geht mich nichts an; alles, was zählt, ist, dass ich meine eigene Seele gerettet habe.“ Doch schon damals hatte G-tt Noach befohlen: „Komm, du ... und deine Frau“ usw. Wie viel mehr dann nach Matan Tora, nachdem uns in den Ebenen von Moaw eine gegenseitige Verantwortung auferlegt wurde, die besagt, dass „alle Israeliten füreinander bürgen, füreinander verantwortlich sind“!23 Niemand kann sich mehr damit begnügen, sich nur um sein eigenes Ich zu kümmern. Der Zustand und die Lage des anderen muss jeden von uns zutiefst berühren.
Oben wurde festgestellt, dass alle Juden ein einzigartiges Gebilde sind. Im menschlichen Körper stellen wir fest, dass die Gesundheit eines Organs die Gesundheit der anderen Organe beeinflusst. So verhält es sich auch mit der Gesamtstruktur der Gemeinschaft Israels. Die geistige Gesundheit eines jeden Juden wirkt sich auf die anderen aus. Daraus folgt, dass, wenn man sich nicht auf einen anderen einlässt, etwas in einem selbst fehlt.
VII. Die Verpflichtung, auf andere einzuwirken, insbesondere auf die Mitglieder des eigenen Haushalts, ist nicht nur um der Pflichterfüllung willen zu erfüllen, sondern erfordert ein echtes Engagement.
Es gibt einen bekannten Ausspruch des Rebben Raschab:24 So wie es ein biblisches Gebot gibt, jeden Tag Tefillin zu tragen, unabhängig davon, ob man ein größerer Talmid Chacham oder ein einfacher Mensch ist, so gibt es auch eine absolute Verpflichtung für jeden Juden, jeden Tag mindestens eine halbe Stunde ernsthaft über die Erziehung seiner Kinder nachzudenken und alles zu tun, was man tun kann – und sogar darüber hinaus –, um die Kinder davon zu überzeugen, dem Weg zu folgen, den man sie lehrt.
Warum hat der Rebbe speziell auf die Mizwa von Tefillin verwiesen, wenn es so viele andere Mizwot gibt? Eine der Anspielungen könnte in der Tatsache zu finden sein, dass die Mizwa von Tefillin nicht nur ein Gebot der physischen Ausführung ist; sie hat auch die innere Bedeutung, die Unterwerfung des Herzens und des Verstandes des Menschen unter G-tt zu bewirken, wie es im Schulchan Aruch25 und im Tanja26 steht. Das ist genau die Art und Weise, wie man versuchen muss, die Mitglieder seines Haushalts zu beeinflussen: nicht nur in einer oberflächlichen Art und Weise seine Pflicht zu erfüllen, sondern mit der vollen Konzentration des Geistes und des Herzens.
Wenn man sich nicht nur mit der Sorge um sich selbst begnügt, sondern mit völliger Hingabe danach strebt, einen anderen Juden vor den bösen Wassern der Sintflut zu retten und ihn in die Tewah zu bringen, dann kann man darauf vertrauen, dass auch er unversehrt bleiben wird.
VIII. Der Grund dafür ist der folgende:
Alles bedarf der G-ttlichen Hilfe. Selbst nachdem Noach die Arche bereits betreten hatte, bedurfte es noch des „Und der Ewige schloss hinter ihm zu“27, d. h. der Hilfe von Oben. Wenn man die Arche – die Worte der Tora und des Gebets – nur im Vertrauen auf die eigenen Kräfte betritt, besteht die Möglichkeit eines völligen Irrtums.
So erklärten unsere Weisen: „[Warum haben Gelehrte häufig keine Söhne, die Gelehrte sind? ...] Weil sie nicht zuerst einen Segensspruch über die Tora gesprochen haben.“28 Das bedeutet: Im Segensspruch über die Tora sagen wir „Der ... uns seine Tora gab“ und schließen mit „Der die Tora gibt“ – gibt, im Präsens. D. h., derjenige, der diesen Segensspruch spricht, ist sich bewusst, dass er auch jetzt die Tora von G-tt empfängt. Nicht „zuerst einen Segensspruch über die Tora zu sprechen“ bedeutet, dass man, G-tt bewahre, den Geber der Tora vergisst, auch wenn man eigentlich die Tora studiert.
Das Gleiche gilt für das Gebet. Es ist denkbar, dass jemand betet, ohne dass das Gebet ihn anregt und seine täglichen Angelegenheiten so beeinflusst, dass sie so sein werden, wie sie sein sollten.
Dies ist also die Hauptbedeutung von „Komm in die Arche“: nicht dort zu bleiben, sondern letztendlich wieder herauszukommen und in die Welt zurückzukehren, um sie in eine „Wohnstätte“ für die G-ttlichkeit zu verwandeln.
Aber damit das Gebet den ganzen Tag beeinflussen kann, muss es so sein, dass man während des Gebets die Welt nicht wahrnimmt. Man muss ganz und gar von weltlichen Dingen befreit sein und allein G-tt wahrnehmen, damit man später, wenn man nach dem Gebet in die Welt tritt, eine ganz neue Welt entdeckt, so wie es bei Noach war.
So wird uns vom Baal Schem Tow29 erzählt, dass er sich vor dem Gebet fragte, ob er sein physisches Leben nach dem Gebet behalten würde. Er war sich nicht sicher, weil ihn während des Gebets die Kelot haNefesch (verzehrende Sehnsucht oder Verschmachten der Seele) erfasste.
Damit die Tora und das Gebet so sind, wie sie sein sollten, braucht man den „Ewigen, der hinter ihm zuschließt“, d. h. Hilfe und Beistand von Oben. Dieser G-ttliche Beistand wird erreicht, indem man sich mit einem anderen beschäftigt. Denn eine solche Fürsorge bewirkt das, was unsere Weisen30 zu dem Vers „Der Ewige erleuchtet die Augen der beiden“31 sagten – dass auch er erleuchtet wird und somit sein Eintreten in die Arche so sein wird, wie es sein sollte.
IX. Außerdem wies G-tt Noach an, alle weltlichen Dinge, die in der Sintflut verloren gehen könnten, in die Arche zu bringen – „von allen Lebewesen“ usw.32 Dies lehrt jeden von uns das Folgende:
Alle weltlichen Dinge, die zerstört werden oder verloren gehen könnten, weil wir uns nicht um sie bemühen, müssen in die Arche gebracht werden, um sie zu retten und für G-ttes Zwecke zu veredeln. Zu denken, dass sie einen nichts angehen, bedeutet, das Prinzip der G-ttlichen Vorsehung zu verletzen. Denn G-tt bewirkt, dass man sich der Tatsache bewusst ist, dass diese Dinge existieren und dass sie ohne menschliches Zutun zerstört werden oder verloren gehen können. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass dies zu dem Zweck geschieht, sie persönlich näher zu bringen und sie zur G-ttlichkeit hin zu veredeln. Derjenige, der dies tut, erhält die G-ttliche Hilfe und den Beistand, um „in die Arche zu kommen“ – sogar bis zu dem Punkt, an dem er We-el Amah Techalena Milemala („Und in der Breite einer Amah – einer Elle – sollst du die Arche oben auslaufen lassen”) erreicht.33 Das Wort Amah ist eine Abkürzung von Elokenu Melech haOlam (unser G-tt, König des Universums), was bedeutet, dass die tiefe Wahrnehmung von G-tt im Sinne von Elokenu (unser G-tt, G-tt Israels) zu (einer Manifestation von G-tt als) König des Universums führt.34 Die Worte Techalena Milemala bedeuten, dass sogar die Instrumente (für unseren Lebensunterhalt) von Oben kommen,35 wie es heißt: „Und Er wird euch versorgen (Jechalkelecha)“36 bis hin zu: „Meinen Bogen (Kaschti) habe Ich in die Wolke gesetzt“37 – d. h. eine Ähnlichkeit von Mir [(Kischuti)], etwas, das Mir vergleichbar ist38 – denn der Regenbogen wird sozusagen mit dem Allerhöchsten verglichen. Die ganze Welt wird so in eine passende Wohnstätte für G-tt verwandelt.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am Schabbat Paraschat Bereschit 5713)
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