Anmerkung1 zum Kapiteltitel „Brief 22“

Meine Geliebten, meine Brüder und Freunde: Eine offene Zurechtweisung aus verborgener Liebe. „Kommt her und lasst uns rechten“2, „gedenke der Tage der Vorzeit, erwäge die Jahre vergangener Geschlechter“3. Geschah solches jemals in den Tagen der Vorzeit? Wo fandet Ihr also in irgendeinem Torawerk der früheren oder späteren Weisen Israels diesen Brauch? Dass es der Brauch und die eingeführte Norm sei, um Rat in materiellen [Angelegenheiten] zu fragen, wie man in Angelegenheiten der materiellen Welt zu handeln habe? Nicht einmal von den größten der einstigen Weisen Israels, wie den Tannaiten und Amoräern, „denen kein Geheimnis verborgen war“4 und „für die alle Pfade des Himmels hell erleuchtet waren“5, wurde solches erfragt, sondern nur von tatsächlichen Propheten, die einst im Volk Israel zu finden waren, wie Schmuel der Seher, den Scha’ul aufsuchte, um bei G‑tt wegen der Esel nachzufragen, die seinem Vater verloren gegangen waren6. Sind doch in Wahrheit alle Angelegenheiten des Menschen, mit Ausnahme von Worten der Tora und der Himmelsfurcht, ausschließlich durch Prophetie begreifbar, und „nicht den Weisen gehört das Brot“7, und wie unsere Meister sel. A. sagten: „Alles befindet sich in der Hand des Himmels mit Ausnahme der Furcht des Himmels.“8 Und „Sieben Dinge sind verborgen etc.: Kein Mensch weiß, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten wird etc., wann das Reich Davids wiederkehren wird etc.“9 Merke, diese [zwei Fragen] werden einander gleichgesetzt!

Die Aussage in Jeschajahu: „ein Ratgeber und Weiser, der alle verstummen lässt“10, wie auch die Aussage unserer Meister sel. A.: „Von ihm erhält man Eza [,Rat‘] und Tuschija [,Hilfe‘]“11 – dies bezieht sich auf Angelegenheiten der Tora, die Tuschija genannt wird12. So sagten unsere Meister sel. A.: „Ein Ratgeber ist jemand, der Schaltjahre berechnen und Monate festlegen kann“13, denn in der Terminologie der Tora wird die Lehre von den Schaltjahren Eza [„Rat“] und Sod [„Geheimnis“] genannt, wie in Sanhedrin, Fol. 8714, steht, siehe dort im Kommentar Raschis.

Indes, die Wahrheit möchte ich denen sagen, die auf mich hören: „Liebe verdirbt die gewöhnliche Ordnung“15, ist sie doch eine Bedeckung für die Augen, sodass die Wahrheit nicht gesehen wird. Aufgrund ihrer gewaltigen Liebe für das Leben des Körpers – des Himmels wegen, um G‑tt mit [dem Körper] zu dienen mit Feuerflammen und einer großen Flamme aufgrund der Liebe ihrer Seelen zu G‑tt, – verdrießt es sie recht, wenn der Körper leidet, G‑tt behüte; möge G‑tt Erbarmen zeigen! Sie sind gänzlich außerstande, [solches] zu ertragen – es führt dazu, dass sie, ihren Verstand außer acht lassend, ihre Füße von Stadt zu Stadt wund laufen, um von ferne Rat einzuholen. Sie wenden sich nicht an G‑tt, indem sie zu Ihm mit demütigem Geist und Unterdrückung des Körpers zurückkehren, um Seine Zurechtweisung mit Liebe aufzunehmen, „denn wen der Ew‑ge liebt etc. pp.“16.

Dies entspricht einem barmherzigen, weisen und gerechten Vater, der seinen Sohn züchtigt. Gewiss sollte ein weiser Sohn nicht den Nacken wenden, um zu fliehen und Hilfe für sich zu finden, oder sogar einen Fürsprecher vor seinem Vater, der barmherzig, gerecht und gütig ist. Vielmehr blicke sein Gesicht seinen Vater an, von Angesicht zu Angesicht, seine Züchtigungen zu seinem lebenslangen Nutzen mit Liebe ertragend.

Nun ist auf g‑ttlicher Ebene der Aspekt „Angesicht“17 der Wille und das Begehren, mit der unser Vater im Himmel Seinen Kindern alles Gute der Welten, wie auch Leben für die Seele und den Körper, zukommen lässt. [Er gibt] aus Liebe und Willigkeit heraus, mit Begehren und Streben, durch die Tora des Lebens, die Sein gesegneter Wille ist, den Er uns gab. Wie wir sagen: „Denn im Lichte Deines Angesichts gabst Du uns die Tora des Lebens etc.“18, um damit Seinen Willen auszuführen19. Darüber wurde gesagt: „Im Licht des Angesichts des Königs ist Leben, und Sein Wille etc.“20

Den Götzendienern hingegen gewährt Er das Leben ihrer Körper ohne Willigkeit, Begehren und Streben. Dies wird folglich als Elohim Acherim21 bezeichnet, weil sie vom rückseitigen Aspekt [Achorajim]22 zehren.

Ebenso verhält es sich mit dem Menschen: Willigkeit und Lust entsprechen dem Konzept „Angesicht“. Empfängt man [die Züchtigung] nicht mit Liebe und Willigkeit, ist es, als wende man [G‑tt] seinen Nacken und Rücken [Achor] zu, G‑tt behüte.

Der empfohlene Ratschlag, [um imstande zu sein, die Züchtigungen] mit Liebe zu empfangen, ist der Rat G‑ttes aus dem Mund unserer Weisen sel. A.: „die eigenen Taten zu prüfen“23. [Der Mensch] wird Sünden finden, die ein „Schrubben“ durch Leiden erfordern. Sodann wird er Seine große Liebe zu ihm, die die „gewöhnliche Ordnung verdirbt“, klar sehen – wie das Beispiel eines großen und gefürchteten Königs, der aus seiner immensen Liebe den Unflat seines einzigen Sohnes persönlich abwäscht. Wie geschrieben steht: „Wenn abgewaschen der Herr den Unflat der Töchter Zions etc. mit dem Winde des Gerichts etc.“24 Und „wie im Wasser Angesicht zu Angesicht [steht]“25, so wird die Liebe im Herzen jeder Person erweckt werden, die den Wert des Wesens der Liebe G‑ttes zu den niederen Geschöpfen erkennt und versteht; [diese Liebe] ist teurer und besser als alles Leben aller Welten, wie geschrieben steht: „Wie teuer ist Deine Liebe [Chessed] etc. pp.“26, „Denn Deine Chessed ist besser als Leben etc.“27. Chessed, die ein Aspekt der Liebe ist, ist der Urquell des Lebens, der in allen Welten gegenwärtig ist, wie gesagt wird: „Er versorgt Leben in Chessed.“28

Alsdann „wird auch G‑tt Gutes gewähren“29 und „Sein Angesicht auf ihn leuchten lassen“30, mit dem Aspekt einer offenbarten Liebe, die zuvor in die offene Zurechtweisung gekleidet war und darin verborgen war. Die Aspekte g‑ttlicher Strenge werden an ihrer Wurzel gemildert, und die Ausdrücke g‑ttlicher Strenge werden für immer und ewig nichtig werden.

Brief 22b31

Meine Geliebten, meine Brüder und Freunde. Aufgrund des ungeheuren Ausmaßes meiner Beschäftigungen, „die mich zusammen eng einschließen“ und „mich wie Wasser umgeben“ – „den ganzen Tag und die ganze Nacht, nimmer schweigen sie“ – „kann ich mich vor der Last nicht retten“, um all das schriftlich niederzulegen, was in meinem Herzen ist. Kurzgefasst jedoch bin ich als jemand gekommen, der frühere [Angelegenheiten] in Erinnerung ruft und im Allgemeinen wiederholt, insbesondere denen gegenüber, die „sich willig hingeben im Volk“ – beim Dienst [G‑ttes], dies ist das Gebet, [unerschütterlich] zu stehen, mit lauter Stimme [zu beten], sich kraftvoll mit aller Kraft und Macht gegen jegliches innerliches oder äußerliches Hindernis stärkend, mit einer starken Hand im buchstäblichen Sinn. Dies ist der „Wille derer, die Ihn fürchten“; er übersteigt Weisheit und Einsicht, die G‑tt ihnen verlieh, sodass sie mit Verstand und Wissen all das tun, was G‑tt befahl. Ein einfacher Wille und ein williger Geist bloß sollten herrschen in jedem Menschen, dessen Herz ihn dazu bewegt, einen „vollkommenen Dienst“ zu leisten32, um Seinem Schöpfer Befriedigung zu verschaffen. Darüber wurde gesagt: „Denn es ist ein hartnäckiges Volk, und Du sollst verzeihen“33, denn Verzeihung übersteigt gleichfalls die Weisheit – „sie fragten die Weisheit etc.“34 Unser Meister Mosche, Friede mit ihm, erbat „Maß für Maß“35. Dies genüge dem Verständigen.

Darüber hinaus ersuche ich Euer Würden36, meine Worte, die von mir vorgebrachte Bitte, dass jedermann aufrichtig sei und in seiner Rechtschaffenheit wandle, so wie „G‑tt den Menschen aufrecht erschaffen hat“, nicht hinter euch zu werfen. [Der Mensch] suche nicht viele Berechnungen über den „Anlass der Schritte eines Mannes und der Gedanken des Menschen und seine Pläne“37. Dies ist die Aufgabe des Himmels und nicht Aufgabe von Fleisch und Blut. Man glaube vielmehr mit vollkommenem Glauben an die Vorschrift unserer Weisen sel. A.: „Und sei demütigen Geistes vor jedem Menschen“38 – im Allgemeinen39. Denn es ist eine wahre Sache und ein richtiger Ausspruch, dass jedermann durch seinen Mitmenschen besser wird. So steht geschrieben: „alle Männer Israels wie ein Mann verbündet“40, so wie ein Mann aus zahlreichen Organen zusammengesetzt ist, und wenn sie abgetrennt werden, dies das Herz beeinflusst, „denn aus ihm geht das Leben hervor“41. Indem wir deshalb wahrlich alle wie ein Mann sind, kommt der Dienst [G‑ttes] im Herzen zustande. Und aus dem Positiven etc.42 Daher wurde gesagt: „Ihm dienen mit vereinter Schulter.“43

Daher flehe ich, meine Geliebten und Freunde, wieder und wieder, sich mit ganzem Herzen und ganzer Seele abzumühen, um die Liebe für den Mitmenschen fest in seinem Herzen zu verankern, „und keiner sinne auf des anderen Unheil in eurem Herzen“44 steht geschrieben. Solch eine [Erwägung] sollte niemals im Herzen aufkommen; und kommt sie auf, hat man sie aus seinem Herzen zu verstoßen45 „wie Rauch verjagt wird“, wirklich wie einen Gedanken des Götzendienstes. Denn Bösrede ist so schwerwiegend wie Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen46. Ist dies so beim Sprechen etc.47; denn bereits jedem Weisen des Herzens ist die größere Wirkung des Gedankens gegenüber dem Wort bekannt, sei es zum Guten oder zum Verbesserungswürdigen.

Möge Euch der gute G‑tt, der Sein Volk mit Frieden segnet, Frieden und Leben in Ewigkeit erteilen, wie der Wunsch dessen ist, der Eure Seele von Herz und Seele liebt.