Jedes Jahr im Elul wussten wir Kinder, dass Vater bald seinen besonderen Schofar holen und uns die Geschichte erzählen würde, über die wir immer mit offenem Mund staunten.

Es geschah 1914 während des Ersten Weltkrieges. Wie Tausende von anderen jungen Männern in Europa wurde unser Vater Isaac G. einberufen und in Bessarabien stationiert, wo er als Funker diente. Er hatte großes Glück, nicht an die Front zu müssen. Trotzdem musste er manchmal übers Schlachtfeld laufen, um Funksprüche zu überbringen. Vaters Helfer war ein tschechoslowakischer Soldat, ein sehr höflicher Nichtjude, der unseren Vater an Samstagen vertrat. So konnte Vater während seines ganzen Militärdienstes den Schabbat heiligen.

Da Rosch Haschana nahte, musste Vater einen Schofar beschaffen. Wie man sich vorstellen kann, war das nicht einfach. Nach vieler Mühe bekam er einen Hammel und schlachtete ihn. Dann schnitzte er mit eigenen Händen einen Schofar aus dem Horn. Als er ihm endlich Töne entlockte, freute es sich unbändig.

Der Krieg endete. G-tt sei Dank blieb Vater unversehrt. Aber jetzt stand er vor einer anderen Herausforderung: seiner Heimkehr. Die Straßen waren voller erschöpfter Soldaten. Alle gingen irgendwohin, aber es gab keine zuverlässigen Transportmittel. Die Züge fuhren nicht mehr. Alles, was den meisten Soldaten blieb, waren ihre eigenen müden Beine. Vater beschloss, durch die Stadt Bunhad nach Hause zu gehen. Dort war er geboren worden, und dort lebten seine Eltern. Von dort aus, dachte er, war es nicht schwer, nach Koschiza zu gelangen, wo er wohnte. Der Weg führte ihn durch einen Wald. Doch kaum war er von Bäumen umgeben, hörte er einen markerschütternden Schrei und wurde von einer Räuberbande überfallen. Sie stahlen seinen Rucksack mit seinem mageren Proviant. Als er sich von seinem Schrecken erholt hatte, hob er seinen Schofar auf, der aus dem Sack gefallen war. Dann ging er weiter.

Es war eine windige, eiskalte Nacht. Ein wenig Schnee fiel, und der Weg war schlecht zu sehen. Vaters ohnehin geschwächter Körper zitterte vor Kälte und quälendem Hunger. Er wusste, seine einzige Chance bestand darin, die nächste Ortschaft zu erreichen, ehe er erfror. Irgendwie trottete er weiter. Plötzlich stand er wieder vor Räubern! Da er nur noch seine Kleider hatte, ließen sie ihn nackt und zitternd – vor Scham und vor Kälte – zurück. Er drückte den Schofar an die Brust, den die Ganoven als wertlos weggeworfen hatten, und weinte. Doch nach einer Weile setzte er seine Wanderung fort. Bald fand er ein Stück Pelz und legte es um. Leider schützte es ihn nur wenig vor der Kälte, und am Stadtrand von Bunhad verließen ihn die Kräfte und er brach ohnmächtig zusammen. Er erwachte im Haus seiner Eltern, und das Erste, was er sah, war sein Schofar!

Vater litt an Lungenentzündung, Wassermangel und Auszehrung. Meist war er halb bewusstlos und öffnete nur selten die Augen einen Spalt. Aus den paar Worten, die er aufschnappte, schloss er, dass ihn nur ein Wunder retten konnte. Viele Nachbarn und Verwandte kamen und gingen. Sie versuchten, seine Eltern aufzumuntern, aber die saßen weinend und untröstlich an seinem Bett. Eines Tages beschlossen seine Eltern auf den Rat eines Freundes, Vaters Bett in ein anderes Zimmer zu bringen. „Wer seinen Platz wechselt, ändert sein Masal“, sagte der Freund. Obwohl Vaters Augen geschlossen blieben, nahm er seine Umgebung wahr. Da er nicht sprechen konnte, hoffte er, man werde ihm seinen Schofar geben. Einige Zeit später zwang er sich, die Augen zu öffnen, und sah zu seiner großen Freude, dass jemand den Schofar neben ihn gelegt hatte. Seine Eltern mussten seinen unausgesprochenen Wunsch gespürt haben. Einige Wochen später geschah das Wunder. Nach und nach gewann Vater seine Kräfte zurück und begann zu sprechen. Eines Tages konnte er aufstehen und nach Hause zurückkehren.

„Seht ihr diesen Schofar?“, fragte Vater uns jedes Jahr. „Er hat alles miterlebt, was ich durchgemacht habe – den Krieg, den Wald, die Lungenentzündung. Ich bin fest davon überzeugt, dass mein Leben nur wegen ihm gerettet wurde.“ Diesen Schofar blies Vater immer an Rosch Haschana in der großen Synagoge unserer Stadt. Und mit jedem Ton – Tekuja, Terua und Schwarim – erlebten wir seine wundersame Geschichte noch einmal.