Der jüdische Monat vor den hohen Feiertagen (Rosch Haschana und Jom Kippur) trägt den Namen Elul. Obwohl die Namen der Monate babylonischen Ursprungs sind, wird ihnen in den Sefarim (den jüdischen Werken) oft auch eine mystische Bedeutung beigemessen. In Bezug auf den Monat Elul gibt es sehr viele solcher Erklärungen. Die wohl Bekannteste sieht im Namen Elul ein Akronym für den Satz aus dem Buch „das Lied der Lieder“ – „Schir Haschirim“: „Ani Ledodi Wedodi Li“ – „Ich zu meinem Liebhaber und mein Liebhaber zu mir.“ Demnach ist der Monat Elul eine Zeit der Liebe zwischen G-tt und seinem Volk. Um die Signifikanz dieses Zeitraumes zu erfassen, wollen wir uns zweier Gleichnisse bedienen.

Das erste Gleichnis: Während eines Geschäftsjahres müssen verschiedene Geschäftsabläufe schriftlich festgehalten werden. So zum Beispiel muss genau erfasst werden, wie viele Bestellungen eingegangen sind, welche Produkte geliefert wurden und welche Rechnungen schon bezahlt wurden. Dennoch hat die Geschäftsleitung keine Zeit, eine Bilanz dieser Daten zu erstellen, da sie zu sehr mit den eigentlichen Tagesgeschäften beschäftigt ist. Da eine klare Bilanz für den weiteren Verlauf der Tätigkeiten äußerst wichtig ist und die weitere strategische Ausrichtung massgebend mitbestimmt, wird ein bestimmter Zeitpunkt festgelegt, zu welchem ein ausführlicher Bericht bereit sein muss. Meist handelt es sich dabei um das Ende des Jahres. Um diesem Termin gerecht zu werden, muss sich die Geschäftsleitung vor diesem Datum während einer gewissen Zeit sehr auf diesen Bereich konzentrieren.

Auch das menschliche Leben sollte stets einem gewissen Lebensziel entgegen führen. Ständig soll der Mensch genau erfassen, welche Taten er getan oder unterlassen hat und wie er seinem Lebensziel näher gekommen ist. Doch einmal im Jahr gilt es, eine Bilanz zu erstellen. Dies sollte vor Rosch Haschana, dem Beginn des neuen Jahres und dem Tag, an welchem die ganze Menschheit gerichtet wird, geschehen. Demnach ist der Monat Elul eine sehr ernste, ja vielleicht sogar etwas traurige Zeit, können doch die wenigsten von sich behaupten, alle ihre geistigen Ziele erreicht zu haben und stets ihrer Pflicht nachgekommen zu sein.

Ein anderes Gleichnis betont jedoch einen ganz anderen Aspekt dieses Monats: Ein König befindet sich gewöhnlich während des Jahres in seinem Palast und nur eine kleine Gruppe auserwählter Leute hat Zutritt zu ihm. Schliesslich muss er täglich wichtige Entscheidungen treffen, welche die Zukunft des ganzen Landes beeinflussen werden. Andererseits ist es dem König wichtig, die Bedürfnisse seines einfachen Volkes und ihre Wünsche zu kennen. Deshalb begibt sich der König einmal im Jahr auf eine Reise durch sein Reich. Während dieser Reise ist es jedermann gestattet, seinen König zu besuchen, seine Bedürfnisse zu äussern und mit dem König ein Gespräch zu führen. Das gewöhnliche Protokoll spielt keine Rolle und jeder ist willkommen. Der König ist allen zugänglich.

G-tt ist König der Welt und als König erwartet er Gehorsam und Leistung. Warum kann uns G-tt nicht einfach alles schenken, ohne eine Gegenleistung zu erwarten? Dies würde es uns zwar einfacher machen, es würde uns jedoch nicht befriedigen. Es liegt in der Natur des Menschen, dass es ihm unangenehm ist, Geschenke anzunehmen, die er nicht verdient hat. Deshalb erwartet auch G-tt von uns eine Gegenleistung. Diese besteht darin, unser Leben in all seinen Aspekten G-tt zu widmen und das Materielle mit geistigem Inhalt zu verbinden. Als König verlangt G-tt auch, dass wir diesen Pflichten nachkommen. Doch der gleiche König ist auch unser liebevoller Vater im Himmel, der sich nichts sehnlicher wünscht, als dass seine Kinder den Weg zurück zu ihm finden.

Beide Aspekte dieser paradoxen Beziehung zwischen G-tt und Mensch finden im Monat Elul ihre Betonung. Einerseits soll sich der Mensch über das verlaufene Jahr Gedanken machen, eine Bilanz ziehen und wo nötig Korrekturen anbringen. Andererseits befindet sich der König auf der Reise und ist jedem besonders leicht zugänglich. Dies soll es uns ermöglichen, trotz unserer Verfehlungen zu unserem Vater im Himmel zurück zu finden.