Josef und sein jüngerer Bruder Ben gingen am Samstagabend vor Rosch Haschana mit ihrem Vater in die Synagoge zum besonderen ersten Selichot-G-ttesdienst. Es war das erste Mal, dass Ben zu so später Stunde – es war schon nach Mitternacht – in die Synagoge ging. Aber er hatte am Nachmittag dieses Schabbats ein wenig geschlafen und war hellwach. Er war noch zu jung, um die Gebete zu sprechen, aber er wusste, dass Selichot „Vergebung“ bedeutet und dass alle G-tt um Vergebung anflehten.

Er saß neben seinem Vater und beobachtete ihn die ganze Zeit. Nie zuvor hatte er seinen Vater so ernst gesehen, vor allem, als er mit gesenktem Kopf ein bestimmtes Gebet sprach und gleichzeitig immer wieder mit der rechten Hand sein Herz berührte.

Nach dem G-ttesdienst fragte Ben seinen älteren Bruder danach. Josef öffnete das Gebetsbuch und zeigte ihm das Gebet. „Das ist das Beichtgebet“, erklärte er.

„Was ist eine Beichte?“, fragte Ben.

„Nun, wenn du einen Fehler gemacht hast und dann sagst: ‚Tut mir leid, dass ich das getan habe‘, dann ist das eine Beichte.“

„Was steht in diesem Gebet?“ „Es folgt dem Alef-Beit. Aschamnu beginnt mit einem Alef, Bogadnu mit einem Beit und so weiter. Diese Worte bedeuten ‚Wir haben gesündigt, wir waren falsch, wir haben geraubt, und ...‘ – Was ist denn, Benny? Warum weinst du?“

„Ich dachte, Vater sei der wundervollste Mann auf der Welt. Wie konnte er nur so etwas tun?“

„Moment mal! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er so etwas getan hat, Ben?“

„Aber warum hat er es dann gesagt? Und er hat es auch so gemeint – ich habe ihn beobachtet!“

Josef musste lächeln. „Hör zu“, sagte er. „Dieses Gebet sprechen alle Juden, sogar die heiligsten Rabbis. Weißt du, alle Juden sind wie ein Leib. Wenn ein Teil dieses Leibes wehtut, ist der ganze Leib krank. Wenn ein Jude sündigt, tut er unserem ganzen Volk weh. Darum nennt das Gebet alle möglichen Sünden, die ein Jude irgendwo begangen haben mag, in alphabetischer Reihenfolge. Deshalb heißt es in dem Gebet ‚Wir haben gesündigt‘. Das heißt, alle zusammen! Das soll uns zeigen, dass wir füreinander verantwortlich sind und einander immer helfen müssen, nur Gutes zu tun.“

Ben wischte sich die Tränen ab und fühlte sich viel besser. Jetzt wusste er, dass sein Vater immer noch der wundervollste Mann der Welt war und nicht nur für sich betete, sondern auch für andere.