Elul: Alle bereiteten sich auf Jom Tow vor, und der „Duft“ der hohen Feiertage lag bereits in der Luft. Die Marktstände waren voll mit Waren aller Art, darunter auch die besonderen Früchte, die man traditionell an Rosch Haschana isst, zum Beispiel Granatäpfel.
Im jüdischen Stadtviertel herrschte reges Treiben. Häuser wurden von oben bis unten geputzt, neue Kleider nach dem Maßnehmen genäht. Gleichzeitig bereiteten sich die Menschen spirituell auf das kommende Jahr vor. Sie achteten mehr darauf, mit einem Minjan zu beten, verzichteten auf Klatsch und benahmen sich besser.
Auch in der Studienhalle des Baal Schem Tow waren die letzten Vorbereitungen auf Rosch Haschana im Gange. Gebete wurden mit größerer Hingabe gesprochen, und alle Gedanken drehten sich darum, reumütig zu G-tt zurückkehren.
Eines Abends, wenige Tage vor Rosch Haschana, bereiteten sich die Schüler des Baal Schem Tow auf den Abendg-ttesdienst vor. Nur der Baal Schem Tow fehlte. Genau zur festgelegten Zeit betrat er die Studienhalle; doch anstatt sein Gebetsbuch zu öffnen blieb er gedankenverloren stehen. Natürlich wagte niemand zu erwähnen, dass es Zeit fürs Gebet war. Die Minuten vergingen, und immer noch schien der Baal Schem Tow mit den Gedanken in einer anderen Welt zu sein. Sein heiliges Gesicht verriet tiefe Gefühle. Seine Schüler waren derartige Vorkommnisse gewohnt.
Als der Baal Schem Tow fast eine Stunde später plötzlich sein Gebetbuch aufschlug, strahlte er vor Freude. Am Abend betete er mit ungewöhnlicher Hingabe und Sehnsucht. Offenbar hatte sich etwas sehr Wichtiges ereignet. Nach dem G-ttesdienst erklärte der Baal Schem Tow:
„Nicht weit von hier lebt ein Jude, der in einem traditionellen jüdischen Heim aufwuchs. Doch als er älter wurde, begann er sich unter die Bauern der Gegend zu mischen und verließ allmählich den jüdischen Pfad, bis man ihn kaum noch von den Heiden unterscheiden konnte. Er war seinen Wurzeln völlig entfremdet.
Viele Jahre vergingen. Der Mann verließ die Provinz, in der er geboren war, und zog in eine nichtjüdische Umgebung. Mit der Zeit vergaß er alles über das jüdische Leben, seine Gebete und Bräuche. Bald waren dreißig Jahre vergangen. Heute Abend besuchte er geschäftlich eine jüdische Stadt. Kaum hatte er sie betreten, fiel ihm das rege Treiben auf, und das machte ihn neugierig. Als er einen Passanten fragte, was hier vorgehe, antwortete dieser: ‚Alle bereiten sich auf einen Feiertag vor, den wir Rosch Haschana nennen. Nach jüdischer Tradition ist dies der Tag, an dem der Mensch geschaffen wurde und an dem das Urteil über die ganze Welt gesprochen wird.‘
Diese Worte rührten den assimilierten Juden. Vielleicht machte ihm das ausgrenzende „wir“ klar, welcher Abgrund zwischen ihm und seinen Brüdern lag. Oder hatte ihn die Erinnerung an den Tag des Urteils aufgerüttelt? Wie dem auch sei, seine Seele erwachte und überflutete ihn mit Kindheitserinnerungen. Als er durch den Markt ging, erkannte er zu seinem Schrecken, dass er ein sinnvolles Leben gegen eine leere Existenz eingetauscht hatte. Er blickte auf und sah erstaunt, dass er vor der Hauptsynagoge stand. Es war fast dunkel, und Gläubige kamen zum abendlichen G-ttesdienst. Ihn packte ein überwältigendes Verlangen, sich diesen Leuten anzuschließen, aber es war ihm peinlich, dass er gar nicht jüdisch aussah. Doch der Wunsch zu beten setzte sich durch.
Er ging in den Frauenbereich und verbarg sich hinter dem Vorhang. Als der Kantor die Worte ‚Und er tilgt unsere Sünden‘ sprach, schauderte der Mann. Er sehnte sich danach zu beten, hatte aber die Worte längst vergessen. Tränen liefen seine Wangen hinab.
Als der letzte Gläubige gegangen war, hielt er es nicht mehr aus und schrie: ‚Herr des Universums, ich weiß, es gibt keinen größeren Sünder als mich. Aber ich weiß auch, dass du gnädig und gütig bist. Himmlischer Vater, vergib mir meine Sünden, und ich werde nicht mehr sündigen. Ich will als Jude zu dir zurückkehren. Bitte erhöre mein Gebet und weise mich nicht ab!‘
Die innige Reue des Mannes erregte im Himmel großes Aufsehen, und sein Gebet stieg bis hinauf zum Thron des Ruhmes. Es war so mächtig, dass es viele andere Gebete mitnahm, die Hunderte von Jahren auf den Aufstieg gewartet hatten. Als ich spürte, was im Herzen dieses Mannes vorging, beschloss ich zu warten und mit ihm zu beten. Ich verschob den Beginn des heutigen Abendg-ttesdienstes, damit wir mit einem echten reuigen Sünder beten konnten.“
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