Hakafot war in vollem Gang. Unaufhörlich tanzten die Besucher des G-ttesdienstes in der kleinen Schul und sangen dabei eine flotte Simchat-Tora-Melodie. Ständig bildeten sich neue Kreise, wenn erschöpfte Tänzer sie verließen und andere ihren Platz einnahmen. Die Tänzer hielten einander an den Händen oder Schultern. Ab und zu begann jemand, eine neue Melodie zu singen, und die anderen passten ihren Tanz an. Wer den Kreis verließ, machte trotzdem mit - er wiegte sich hin und her, klatschte mit den Händen und feuerte die Tänzer an.
Ich wollte nur zuschauen. Aber ich kam dem tanzenden Kreis zu nahe. Jemand aus dem Kreis packte mich am Arm und zog mich hinein. Zuerst war ich ein wenig verdutzt, aber bald ließ ich mich vom Rhythmus und der Erregung der Tänzer anstecken und wurde zu einem Teil dieser netten Leute, die mit dem größten Geschenkt G-ttes tanzten - der Tora. Es war ein wundervolles Gefühl.
Als der Kreis wuchs, wurde ich immer weiter in die Mitte geschubst. Ich drehte den Kopf, um einen Blick auf den Mann zu werfen, der mich geschoben hatte. Seine Hand lag leicht auf meiner Schulter. Es war ein älterer Mann, und ich fragte mich, woher er die Kraft hatte, ohne Unterlass zu tanzen.
Da er die Augen geschlossen hatte, konnte ich sein Gesicht genauer betrachten, ohne aufdringlich zu wirken. Seine Lippen bewegten sich, aber er sagte kein Wort. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und ich sah erstaunt, dass er weinte. Glück und Ekstase spiegelten sich auf seinem edlen Gesicht wieder. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen, und obwohl ich müde war, hätte ich mich geschämt, es zuzugeben, weil dieser ältere Mann so viel Energie hatte.
Schließlich war der Hakafot vorbei, und der Kreis löste sich auf. Die Tänzer setzten sich, um Atem zu schöpfen. Ich folgte meinem Nachbarn beim Tanz und setzte mich neben ihn.
„So einen bewegenden Hakafot habe ich lange nicht mehr erlebt“, sagte er und wischte sich die Stirn.
„Ja, man fühlt sich wohl dabei“, sagte ich und versuchte, das Gespräch in Gang zu halten. Ich war davon über zeugt, dass es sich lohnen würde, ihm zuzuhören.
„Gut?“ rief der Mann. „Mein Junge, wissen Sie, was gut ist? Waren Sie jemals so glücklich, dass Sie vor Freude geweint haben?“
„Na ja ...“
„Lassen Sie mich von den Hakafot vor vielen Jahren erzählen. Dann wissen Sie, was ich meine.“
Ich war sehr neugierig. Mein Nachbar musste es gemerkt haben, denn der spannte mich nicht auf die Folter.
„Es war vor etwa dreißig Jahren. Nein, es war sogar genau vor dreißig Jahren, in der schrecklichen Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Ich lebte damals in Riga, der Hauptstadt der jungen Republik Lettland.
An diesem Abend hatten wir uns in einem Keller der Altstadt zum Hakafot getroffen. In der Nähe war der Donner von Kanonen und das Knattern von Maschinengewehren zu hören. Die deutschen Aufständischen unter Bermont standen am anderen Ufer der Dwina, und die Nationalisten verteidigten die Stadt erbittert. Aber es sah nicht gut für sie aus. Sie verloren an Boden, sie waren nervös und witterten überall Verrat und Spionage. Und jeder, den sie verdächtigten, wurde ohne nähere Untersuchung erschossen.
Stellen Sie sich diese Nacht vor. Die Stadt lag unter schwerem Beschuss, der Himmel war trüb und die ganze Stadt völlig dunkel. Auf einmal sehen Wachposten ein Licht durch ein Fenster im untersten Stockwerk eines Hauses. Das Licht tanzt auf und ab, dann verschwindet es. „Endlich haben wir den Spion entdeckt!“ rufen sie und laufen ins Haus, die Treppe hinauf und hinunter. Wir hören ihre schweren Stiefel. Dann stürmen sie in unseren Keller und schreien: „Wo ist der dreckige Spion?“
Ich hob die Augenbrauen, weil ich nicht ganz verstand, und der alte Mann lächelte. „Sie wundern sich darüber, dass diese Wachen beim Hakafot in unseren Keller eindrangen? Nun, dann muss ich Ihnen von Zalman erzählen. Sein Familienname war Michelson, aber kaum jemand kannte diesen Namen, weil alle ihn Zalman den Matratzenmacher nannten. Er war arm wie eine Kirchenmaus, aber fröhlich und unbeschwert wie eine Lerche. Und natürlich war er ein frommer Mann. Er wusste nicht, was es heißt, traurig zu sein, obwohl er Grund genug gehabt hätte: Er hatte viele Münder zu füttern, eine Tochter im Heiratsalter und eine kranke Frau. Aber G-tt hatte ihn mit einem heiteren Gemüt gesegnet, und anscheinend konnte ihn nichts aus der Ruhe bringen.
An diesem Abend war Zalman der Matratzenmacher bei uns im Keller. In dieser Nacht der Nächte sollen wir Juden mit der Tora jauchzen und tanzen. Aber wir saßen niedergeschlagen da und zitterten jedes Mal, wenn eine Explosion die Stille durchbrach.
Zalman hielt es nicht länger aus. „Brüder!“ rief er. „Es ist Simchat Tora! Wir müssen fröhlich sein.“ Aber seine Worte stießen auf taube Ohren. Einen Augenblick sah er verstimmt aus, dann fiel ihm plötzlich etwas ein. „Ich sehe schon, Freunde, ohne einen Tropfen Schnaps wird nichts daraus. Aber mir ist eben eingefallen, dass ich zu Hause im Schrank einen Liter Schnaps habe. Das hätte ich fast vergessen. Ich bin gleich zurück!“
Wie sahen ihn erstaunt an. „Bist du verrückt, Zalman? Du kannst doch wegen einer Flasche Schnaps nicht in den sechsten Stock hinaufsteigen, wo Granaten und Gewehrkugeln und Glassplitter durch die Luft fliegen! Sei kein Narr, Zalman.“
Aber er erwiderte: „Macht euch keine Sorgen. Wir haben einen großen und mächtigen G-tt. Ich komme gleich zurück, und dann feiern wir Hakafot.“ Bevor wir ihn aufhalten konnten, war er verschwunden. Eine Kerze nahm er mit.
Zalman stieg in den sechsten Stock hinauf, wo er wohnte. Er zündete die Kerze an und fand die Flasche. Er war so glücklich, dass er mit der Kerze in der einen Hand und der Flasche in der anderen herumtanzte und den Krieg, das Bombardement und die Vorschriften vergaß. So kam er zu uns zurück.
Jetzt wissen Sie, junger Freund, was die Wachen in der Dunkelheit sahen. Wir bereiteten uns eben auf Hakafot vor, als die Wachen hereinstürmten und schrieen: „Wo ist der dreckige Spion?“
Wir waren starr vor Schreck und brachten kein Wort heraus. Wir wussten ja, was es bedeutete, als Spion verdächtigt zu werden. „Liefert den Spion aus, oder wir erschießen euch alle!“ schrieen sie. „Jemand hat dem Feind vor wenigen Augenblicken Zeichen gegeben, und das Munitionslager ist nur ein paar Häuser entfernt! Ihr verdammten Juden wollt uns wohl alle in die Luft sprengen! Zum letzten Mal - wer hat dem Feind die Signale gegeben?“
Zalman trat mit der Flasche in der Hand vor und sagte ruhig: „Ihr habt mich mit einer Kerze auf der Treppe gesehen. Aber ich habe dem Feind keine Signale gegeben, sondern ...“
„Mund halten und mitkommen!“ sagten die Soldaten schroff und zerrten den armen Zalman fort.
Wenn wir vorher deprimiert waren, so waren wir jetzt tief bekümmert. Der arme Zalman! Man würde ihn sofort an die Wand stellen und erschießen, ohne Fragen zu stellen. Jedes Mal, wenn wir ein Gewehr oder Maschinengewehr hörten, dachten wir, das sei Zalmans Ende. Viele von uns weinten. Wir beschlossen, Zalmans Witwe und seine Waisen zu unterstützen und einen Stein auf sein Grab zu stellen, falls die Behörden seine Leiche freigaben.
Die Zeit verging langsam. Wir dachten, die Nacht werden nie vergehen. Und die ganze Zeit sprechen wir über den verstorbenen Zalman und seine arme, trauernde Familie. Alle fanden ein gutes Wort für Zalman - er hatte alle aufgemuntert und war das Leben jeder Simcha, jeder Hochzeit und jedes Festes gewesen, und er war immer willkommen gewesen, einerlei, ob man ihn eingeladen hatte oder nicht.
Auf einmal hörten wir Schritte, und herein kam - was glauben Sie? Zalman! Wie trauten unseren Augen nicht und hielten ihn für einen Geist. Aber nein, die Flasche in seiner Hand sah echt aus. Er war totenblass, aber heiter wie immer. Wir liefen zu ihm und drückten ihn fast zu Boden. Alle wollten ihn küssen und umarmen, und alle hatten Tränen in den Augen. Einige von uns murmelten: „Gesegnet sei der, der die Toten auferweckt.“
„Hört auf!“ rief Zalman. „Ich liebe euch auch, aber wir haben jetzt keine Zeit. Lasst uns Hakafot feiern!“ Aber wir wollten erst erfahren, wie es ihm ergangen war und welches Wunder ihn vor dem sicheren Tod gerettet hatte.
„Habe ich euch nicht gesagt, dass wir einen großen und mächtigen G-tt haben?“ begann Zalman. „Also, man schleppte mich ins Hauptquartier und führte mich zum diensthabenden Offizier. Er sah mich kaum an und sagte nur: „Erschießen! Keine Zeit für eine Untersuchung!“
Ich schaute ihn einen Augenblick an, dann fiel es mir ein und ich rief: „Styopka! Was zum Teufel soll das?“
Der Offizier hob den Blick, starrte mich einen Moment an und brach in Gelächter aus. „Was für ein Witz! Du, Zalman, ein Spion!? Ha, ha ha! Und mit der Schnapsflasche in der Hand ... Ha, ha! Na, komm, setzen wir uns und plaudern wir über alte Zeiten. Weißt du noch, wie oft ich morgens zu dir ins Haus kam und die Kerzen mitnahm, um im Winter ein Feuer anzuzünden? Ich bekam immer ein ordentliches Stück Brot - ich glaube, Challa habt ihr es genannt. Damals war ich noch ein Kind, aber du hast mich wie einen Erwachsenen behandelt. Ich hatte dich sehr gern, Zalman. Ach, das waren glückliche Zeiten in unserer kleinen Stadt, ruhig und friedlich. Aber heute ... schrecklich. Du hast Glück, dass ich heute Dienst habe. Eigentlich war ich gar nicht an der Reihe, aber ich vertrete einen Kameraden. Sonst wärst du jetzt mausetot. Aber sag mal, was willst du mit der Flasche? Ist heute Purim?
„Das solltest du besser wissen, Stefan Iwanowitsch!“ sagte ich zu ihm. „Purim ist am Ende des Winters, und jetzt ist es Herbst. Nein, wir haben heute Abend Simchat Tora.“
„Klar, jetzt erinnere ich mich. Da tanzt ihr immer im Kreis herum ...“
„Und genau das wollten wir heute Abend tun, als wir ein bisschen unterbrochen wurden.“
„Na, dann geh mal zurück zu deinem Tanz und bete für uns, Zalman. Ihr Juden seid wunderbar - riskiert Kopf und Kragen für eure Religion, tanzt im Schatten des Todes.“
Das war Zalmans einfache Geschichte. Er erhielt einen besonderen Pass, damit er zu uns zurückkehren konnte und damit ihn in Zukunft niemand belästigte. Dann begannen wir mit dem Hakafot. Oh, diese Hakafot - ich werde sie nie vergessen! Jedes Mal, wenn ich Hakafot feiere, muss ich daran denken, und das seit dreißig Jahren!“
Dann fing er an, eine Melodie zu summen: „Schwingt die Füße und erhebt die Stimme, jubelt mit unserer Tora!“
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