Simchat Tora in der „Synagoge der Soldaten“ der russischen Stadt S. war ein herrlicher Anblick. Die Menschen in der kleinen Synagoge jauchzten aufrichtig mit der Tora, und die meisten von ihnen waren einmal Rekruten gewesen.
Besonders eindrucksvoll war ein alter Soldat, der mit der Tora-Rolle in den Armen tanzte. Er öffnete das Hemd, so dass man tiefe Narben auf seiner Brust und seinen Schultern sah, und dann sang er: „Tora, Tora, ich liebe dich.“ Nach dem Hakafot umringten wir - die jungen Männer in der Synagoge - den Mann und baten ihn, uns von diesen Wunden zu erzählen. Gebannt hörten wir seiner Geschichte zu, obwohl wir sie schon oft gehört hatten. Er berichtete folgendes:
Ich war ein kleiner Junge von acht Jahren, als mein Vater, Rabbi Schlomo, gesegnet sei sein Angedenken, einen schrecklichen Befehl erhielt: Er sollte zwanzig Jungen aus dem Städtchen zur Armee des Zaren schicken. Die ganze Stadt war entsetzt. Für alle Eltern, die Jungen in meinem Alter hatten, auch für meine Eltern, war dies der Tag des Gerichts. Wären alle Jungen an diesem Tag an der Pest gestorben, hätte der Kummer nicht größer sein können.
Im Hause meines Vaters versammelten sich alle führenden Mitglieder unserer Gemeinde. Einige der reicheren Mitglieder boten viel Geld für die Kasse der Gemeinde, wenn ihre Söhne verschont blieben. Aber mein Vater wollte nichts davon hören. Er verlangte, alle Kinder gleich zu behandeln und die Rekruten durch das Los zu bestimmen. So jung ich war, ich verstand trotzdem, dass dies eine Tragödie bedeutete, und als ich im Bett lag und so tat, als schliefe ich, hörte ich aufgeregte und laute Stimmen im Nebenzimmer, wo die Besprechung stattfand. „Was ist mit deinem Dovidel?“ fragte jemand. Ich schauderte.
„Er ist selbstverständlich keine Ausnahme“, erwiderte mein Vater ernst. Die Besprechung dauerte fast die ganze Nacht, aber ich schlief ein, bevor sie endete.
Als ich am Morgen aufwachte, saß meine Mutter am Rand meines Bettes. Ihre Augen waren rot vom Weinen und vom Schlafmangel. Sie umarmte mich, kaum dass ich die Augen öffnete, und ich spürte zwei heiße Tränen an den Wangen. Worte waren unnötig. Ich wusste, dass ich zu den Jungen gehörte, die man wegschicken musste, und dass ich meine Eltern vielleicht nie wiedersehen würde.
„Weine nicht, Mutter“, sagte ich. „Ich komme zurück.“
„Dovidel“, sagte sie, „ich mache mir Sorgen darüber, ob du als Jude zurückkommst.“
„Mutter, ich werde immer Jude bleiben“, versicherte ich.
Die Szene wiederholte sich, als ich im kleinen Arbeitszimmer auf den Knien meines Vaters saß. Er sprach lange mit mir. In seinen Augen waren keine Tränen, aber ich wusste, dass ihm schier das Herz brach. Mein Vater lebte danach nicht mehr lange. Etwa eine Woche, bevor wir abrücken mussten, starb er.
Ein paar Tage später kamen zwei Fremde in die Stadt. Sie sagten, sie wollten Vieh von den Bauern kaufen, aber es gab Gerüchte, dass sie Kinder entführten. Man flüsterte, reiche Leute hätten sie bestochen, ihre Kinder in Ruhe zu lassen und stattdessen Jungen armer Familien mitzunehmen. Der Plan meines Vaters war also gescheitert.
Als die Fremden kamen, schienen alle Jungen der Stadt verschwunden zu sein. Meine Mutter versteckte mich im Keller. Dann kamen die Männer in unser Haus. Ich hörte grobe Stimmen, dann ein leises Gerangel, ein Keuchen und ein Geräusch, als falle ein lebloser Körper zu Boden. Ich hielt es in meinem Versteck nicht mehr aus, stieg die Treppe zur Falltür hinauf und rief: „Mutter, geht es dir gut? Lass mich raus!“
Einen Augenblick später packten mich kräftige Hände und zerrten mich fort. Ich sah meine Mutter auf dem Fußboden liegen und wehrte mich verzweifelt, aber ohne Erfolg. Ich konnte nur noch schreien: „Ihr Schurken habt meine Mutter umgebracht!“
„Deine Mutter kommt schon wieder zu sich“, erwiderten sie. „Jetzt sei ein braver Junge, sonst wird es dir leid tun.“
Sie sperrten uns Jungen in zwei Wagen. Wir waren aneinander gefesselt, und die Enden des Seils waren am Wagen befestigt. Die ganze Stadt war auf den Beinen, um uns zu verabschieden, und auch meine Mutter war da. Ich werde diesen Abschied nie vergessen. Eine bewaffnete Wache umringte die Wagen und drängte die Leute zurück. Plötzlich drängte meine Mutter sich nach vorne und warf mir ein kleines Päckchen zu. „Vergiss nicht deine Bar Mizwa“, waren ihre letzten Worte. In dem Päckchen waren ein Paar Tefillin und ein kleines Gebetbuch. Aber meine Bar Mizwa war noch so fern ...
Tja, ich will euch nicht erzählen, was ich in den nächsten drei Jahren meiner „Ausbildung“ durchmachte. Es war keine militärische Ausbildung, sondern eine systematische Vorbereitung auf die Konversion mit endlosen Schlägen und Quälereien, wann immer wir uns weigerten, mit unbedeckten Köpfen zu gehen oder das Kreuz zu küssen. Und wir weigerten uns immer.
In diesen Jahren galt ich nach und nach als Chef unserer Gruppe. Da ich der Sohn eines Rabbi war und viel mehr gelernt hatte als die anderen, suchten sie Anleitung und Ermutigung bei mir. Ich wusste, wenn ich die kleinste Schwäche zeigte, würde die grausame „Ausbildung“ die Jungen zerbrechen.
Irgendwie kam der Feldwebel dahinter, der für uns zuständig war. Von da an konzentrierte er alle „schweren Geschütze“ auf mich. Ich sollte den anderen ein Beispiel geben und meinem Glauben abschwören.
Eines Tages, nach schweren Schlägen, führte man mich zum Feldwebel. Ein Priester war bei ihm, der sich bemühte, freundlich und mitfühlend auszusehen. Ein langes Gespräch folgte, und immer, wenn einer von beiden außer Atem war, sprang der andere ein. Sie versprachen mit eine glänzende Zukunft, eine große Karriere auf der Militärschule, die schmucke Uniform eines Generals und die Ehre und die Macht eines Gouverneurs. Wenn ich mich allerdings weigern sollte, würde ich elend sterben und meine Mutter nie wiedersehen.
Sie redeten und redeten, aber ich konnte ihnen kaum folgen. Ich spürte nur die heftigen Schmerzen am ganzen Körper und quälenden Durst. Darum bat ich um ein Glas Wasser.
Der Feldwebel füllte ein Glas mit glitzerndem Wasser, aber als ich danach griff, zog er es zurück. „Nicht so schnell, mein Junge. Zuerst musst du uns eine Antwort geben.“
„Bitte, geben Sie mir das Wasser. Ich werde Ihnen in drei Tagen antworten“, sagte ich verzweifelt.
Der Feldwebel und der Priester warfen sich Blicke zu; dann durfte ich das Wasser trinken.
Die nächsten drei Tage waren die schlimmsten, die ich je erlebt hatte. Ich lag auf meinem Bett, und alles tat mir weh. Aber meine seelischen Qualen waren schlimmer. Konnte ich das noch länger aushalten? Sollte ich nachgeben? Dann dachte ich an meine Pflicht gegenüber den anderen Jungen und meinen Eltern. Ich schüttelte den Kopf und rief: „Nein, nein!“
Dann kam der letzte Abend vor dem schicksalhaften Tag. Der Feldwebel besuchte mich. „Gut schaust du aus, mein Junge. Wird das nicht ein großer Tag morgen?“
„Ganz bestimmt“, antwortete ich. Er verließ mich in bester Stimmung, überzeugt davon, dass der nächste Tag für ihn ein Tag des Triumphes und der Beförderung sein werde. Der General würde ihm auf die Schulter klopfen und sagen: „Gut gemacht, Iwan.“ Und der Priester würde ihn segnen und ihm das ewige Leben zusichern, weil er eine Seele gerettet hatte.
In dieser Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Ich war wieder in meiner kleinen Stadt am Ufer des Baches und sprang ins Wasser. Plötzlich spürte ich einen schrecklichen Krampf und konnte nicht weiterschwimmen. Ich bekam Angst und schnappte nach Luft. Dann wollte ich um Hilfe rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Ich würde ertrinken ... Dann sah ich einen Strohhalm vorbeitreiben, und in meiner Verzweiflung griff ich danach. Auf einmal verwandelte sich der Halm in eine starke goldene Kette, deren Ende an einem Baum befestigt war, der am Ufer des Baches wuchs. Als ich nach der Kette griff, sah ich, dass sie aus vielen Glieder bestand, die immer größer wurden, je weiter sie von mir entfernt waren. Dann sah ich goldene Worte, die in die Glieder eingraviert waren, und als ich genauer hinsah, las ich: Abraham, Itzchak, Jakob“ auf den größten und fernsten drei Kettengliedern, gefolgt von vielen anderen Namen, die mir aus der Bibel vertraut waren. Und auf einem Kettenglied sah ich meinen eigenen Namen, und gleich daneben den meines Vaters!
Einen Augenblick fühlte ich mich geborgen und glücklich, doch dann sah ich zu meinem Schrecken, dass mein Kettenglied langsam bröckelig wurde. Noch eine Minute, und es würde zerbrechen, und ich musste ertrinken ...
„Nein, nein!“ schrie ich. „Brich nicht!“ Ich wachte jäh auf, und mein kleines Herz klopfte wild. Den Rest der Nacht lag ich wach und weinte.
Der große Saal der Messe war zum Bersten gefüllt. Auf dem Podium saßen viele Militärs, mein Feldwebel und der Priester. Im Saal saßen viele jüdische Rekruten aus meiner Gruppe und aus anderen Einheiten. Offenbar wollte man meine Konversion gebührend feiern.
Als man mich zum Podium führte und feierlich fragte, ob ich bereit sei, Christ zu werden, antwortete ich nicht sofort. Ich schaute mich um und ließ den Blick auf meinen Kameraden verweilen, dann kurz auf den Säbeln und Schwertern an den Wänden und auf dem blauen Himmel, den ich durchs Fenster sah.
Am vorderen Tisch wurden sie ungeduldig und drängten mich zu einer Antwort. Ich ging zur Wand und nahm ein kleines Beil ab. Dann ging ich zurück zum Tisch, legte drei Finger darauf - den Mittelfinger hielt ich sorgfältig zurück, weil ich hoffte, eines Tages mit ihm Tefillin anzulegen -, und bevor jemand merkte, was ich vorhatte, hob ich das Beil und ließ es mit aller Kraft auf meine Finger niedersausen.
„Da habt ihr meine Antwort!“ sagte ich und winkte mit meiner blutigen Hand vor ihren Gesichtern. Dann fiel ich in Ohnmacht.
Der alte Mann schwieg eine Weile und betrachtete stolz seine linke Hand, an der drei Fingerspitzen fehlten. Mehr erzählte er uns nicht, aber wir wussten, dass dieser alte Soldat den Zaren dazu bewegt hatte, seinen grausamen Erlass zurückzunehmen.
Denn die Geschichte des heldenhaften Jungen, der seinem Glauben treu bleiben wollte, war damals Tagesgespräch am ganzen kaiserlichen Hof. Als Zar Nikolaus davon hörte, wusste er, dass alle seine Erlasse zum Scheitern verurteilt waren, solange es Jungen wie diesen gab.
Bewundernd sahen wir den alten Mann an. Aber er wollte nicht als Held verehrt werden. Er sprang auf und tanzte weiter, und dabei sang er:
„Die Tora ist unsere einzige Wahl. Jubelt an Simchat Tora, jubelt!”
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