Ich heisse Rafi und gehe in die 4. Klasse einer jüdischen Knabenschule. Ich bin nicht so ein fleissiger Schüler. Die Wahrheit ist, bis vor kurzem war ich ziemlich schwach. Ich bin nicht blöd oder so. Ich habe einfach etwas in mir, das mich davon abhält in der Schule voranzukommen.

Weisst du, ich bin ... ein Pilot. Na ja, nicht wirklich. Aber so nennen sie mich.

Oftmals bemerke ich während der Stunde plötzlich, dass alle Kinder lachen. Und dann wird mir klar, dass der Lehrer meinen Namen noch und noch genannt hat, und ich ihn nicht gehört habe ... weil ich in meinen Träumen verloren war.

Darum nennen sie mich den „Piloten“. Von Zeit zu Zeit löse ich mich von allem, was rund um mich vorgeht, und ich hebe ab – irgendwohin. Ich stelle mir allerlei Dinge vor und verliere mich in meinen Gedanken. Ich bin wie ein Pilot, der abheben und in die Wolken fliegen kann, weit weg von all den Leuten um mich rum.

Es mag dich vielleicht überraschen, aber ich bin durch diesen Spitznamen überhaupt nicht beleidigt. Ich meine, erstens ist „Pilot“ nicht gerade beleidigendend, finde ich. Und zweitens beschreibt es die Art, wie ich bin. Ich löse mich wirklich manchmal von allen anderen und fliege in meine eigene Welt von Gedanken, Plänen und Phantasien fort.

Ein Beispiel gefällig? Nun, manchmal stelle ich mir vor, dass ich schon zwanzig Jahre alt bin. Ich male mir aus, wie ich aussehe und wie die Leute mich ernst nehmen. Ich stelle mir die Kleider vor, die ich trage, in welcher Jeschiva ich lerne, sogar kleine Details, wie das Aussehen meines Zimmers in der Jeschiva. Und dann stelle ich mir die Schule vor, in der ich Direktor sein werde, wenn ich älter bin. So bin ich nun mal.

Das Problem ist, dass ich diese Träume nicht habe, wenn ich schlafe, sondern mitten am Tag, in der Klasse. Ich schliesse meine Augen nicht, erzählt man mir. Ich lasse sie offen. Ich starre irgendeinen Punkt an und auf geht’s. Dann bemerken es die Kinder meiner Klasse und sagen: „Sieht, er ist wieder als Pilot unterwegs.“ Aber ich höre kein Wort. Ich bin weit, weit weg. Erst wenn sie mich richtig schütteln und rufen „He, Rafi, wach auf!“, dann komme ich zurück auf die Erde. Manchmal frage ich sie, wie lange ich „weg“ war.

Meine Eltern haben sich in letzter Zeit sehr grosse Sorgen um mich gemacht. Mein Vater hat mich sogar einmal zu einer Expertin mitgenommen, die herausfinden sollte, ob ich ein Problem habe, und wenn ja, wie ernst es ist. Sie hat mich allerlei komische Fragen gefragt. Am Anfang habe ich sie alle beantwortet. Aber dann bemerkte ich ein wirklich hübsches Bild mit Türmen und Schlössern an ihrer Wand... und ich habe begonnen mir vorzustellen, wie ich diese Dinge aus Lego bauen würde. Ich bin wirklich gut im Lego-bauen – hab’ ich dir das schon gesagt?

In der Zwischenzeit fragte sie weiter, und ich habe ihr auch geantwortet, aber ich habe keine Ahnung, was ich gesagt habe.

Nachher hat sie meinem Vater einige Dinge gesagt, die er mir dann erzählt hat. Er hat mir erklärt, dass ich ein sehr kreatives Kind bin, aber ich muss aufpassen, dass ich meine Gedanken kontrollieren kann, denn ich kann nicht so weiter machen - in der Klasse sitzen und gleichzeitig in Phantasie-Welten davonfliegen.

Also habe ich daran gearbeitet und ich bemühe mich sehr, nicht meinen Kopf zu verlieren und mitten in der Stunde davonzufliegen. Ich versuche mir meine Flüge bis nach dem Unterricht aufzuheben.

Ich habe einen Trick, der mir dabei hilft. Jeden Tag nehme ich mir vor, für eine gewisse Zeit aufzupassen und nicht wegzufliegen. Ich versuchte es zuerst mit 15 Minuten. Nachdem ich es geschafft hatte, diese Zeit am Boden zu bleiben, habe ich für den nächsten Tag fünf Minuten dazugelegt. Und am nächsten Tag wieder fünf Minuten, und so weiter. Mittlerweile bin ich in der Lage, meinen Kopf für ganze fünfundfünfzig Minuten beisammen zu halten. Glaub nicht, dass das leicht ist! Aber ich schaffe es!

Ich glaube, wenn ich mich wirklich bemühe, kann ich ein guter Schüler werden. Ich glaube, dass ich klug genug bin, auch wenn ich ein Pilot bin. Vielleicht kann ich zur Spitze der Klasse hinauffliegen!