Vor mehr als 400 Jahren lebte in Spanien ein sehr vornehmer Mann. Er war der wichtigste Berater des Königs, und der König schätze seinen Rat so sehr, dass er bei all seinen Regierungsgeschäften zuerst diesen Berater um seine Meinung fragte, bevor er eine Entscheidung traf.
Viele Jahre lang war der Berater ein treuer Beamter seines Königs. Doch als er älter wurde, fühlte er, dass ihm die verantwortungsvolle Position zu anstrengend wurde, und er wollte sich in den Ruhestand begeben. Doch der König war damit nicht einverstanden. „Ich kann doch nicht auf deine großen Fähigkeiten verzichten“, sagte er. „Nur wenn du jemanden findest, der an deiner Stelle genauso gut arbeiten wird, kannst du in Pension gehen!“
Da es niemanden gab, der so große Kenntnisse und Fähigkeiten hatte, blieb der Berater in seiner Position.
Doch eines Tages wurde der Berater sehr krank. Der König sorgte sogleich dafür, dass die besten Ärzte des Landes kamen, um ihn zu heilen. Doch alle Anstrengungen der Ärzte halfen nichts. Der Zustand des Beraters wurde von Tag zu Tag schlechter, und es schien, als hätte er nicht mehr lange zu leben.
Als die Ärzte alle Hoffnung aufgegeben hatten, schickte der König einen Priester zum Berater, damit er in seinen letzten Stunden einen geistigen Beistand habe. Und da der König seinen Berater sehr gerne hatte, schickte er nicht irgendeinen Priester sondern einen von ganz hohem Rang, einen Kardinal.
Als der Kardinal kam, gingen alle Ärzte und Besucher aus dem Zimmer des Beraters hinaus, um nicht zu stören. Nachdem der Kardinal all seine Gebete und Zeremonien beendet hatte, blickte er den Berater noch einmal mit einem liebevollen, freundschaftlich Blick an, bevor er hinausging. Auch er hatte den Berater immer sehr geschätzt und bewundert, und es fiel ihm schwer, Abschied zu nehmen.
Doch als die Ärzte wieder das Zimmer betraten staunten sie sehr! Sie hatten erwartet, dass der Berater jeden Moment seinen letzten Atemzug tun wird, doch er sah plötzlich viel besser aus als vorher! Er bewegte seine Lippen und schien ein Gebet zu sprechen. Er begann stärker zu atmen, dann öffnete er seine Augen und kam wieder ganz zu Bewusstsein.
Von diesem Tag an erholte sich der Patient erstaunlich schnell. Tag um Tag ging es ihm besser, und nach einigen Tagen konnte er sogar schon vom Bett aufstehen. Der König besuchte ihn, und versicherte ihm, wie froh und erleichtert er war, dass sein guter Freund sich so wunderbar erholte.
Nachdem der Berater wieder ganz gesund geworden war, lud er jenen Kardinal ein, ihn zu besuchen. Der Kardinal kam sogleich und der Berater sprach zu ihm: „Zuerst möchte ich dir danken, dass du für mich gebetet hast, obwohl die Ärzte schon alle Hoffnung aufgegeben hatten!“
„Wenn meine Gebete geholfen haben,“ antwortete der Kardinal, „dann war es wohl, weil du so viel verdienstvolle Arbeit für unser Land geleistet hast!“
Doch der Berater ließ nicht locker: „Ich habe gefühlt, dass es genau deine Gebete waren, die mir geholfen haben! Eines davon ganz besonders, ein ganz kurzes, dass du in einer fremden Sprache gesagt hast, mehrmals hast du es wiederholt...“
Der Kardinal wurde sehr nervös, als er das hörte, und meinte ausweichend: „Der Allmächtige nimmt Gebete in jeder Sprache an, wichtig ist nur, dass sie vom Herzen kommen.“
„Aber ich möchte genau wissen“, bohrte der Berater weiter, „was das für ein Gebet war, das du da in mein Ohr geflüstert hast! War es vielleicht gar ein Zauberspruch?“
„Oh, nein! G-tt behüte!“ rief der Kardinal.
„Aber was war es dann?“
„Es gibt Dinge, die Geistliche geheim halten müssen“, versuchte der Kardinal ausweichend zu antworten.
„Das ist eine Ausrede! Ich will, dass du mir die Wahrheit sagst“, verlangte der Berater. Der Kardinal war sehr blass und sagte nichts.
Daraufhin begann der Berater zu erzählen: „Als ich bewusstlos dalag und fühlte, wie meine Seele zwischen Leben und Tod schwebte, da drang dieses Gebet, das ich von dir hörte, tief in mein Gehirn ein. Von dir habe ich nie so ein Gebet gehört, aber ich habe diese Worte gehört von den heimlichen Juden, die es in unserem Land gibt. Wenn sie erwischt und zum Tod verurteilt werden, sagen sie diese Worte bevor sie sterben! – Schema Jisrael...“
Der Kardinal war ganz still, aber er hörte aufmerksam zu, als der Berater fortsetzte:
„Ich habe lange darüber nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass du selbst einer von jenen heimlichen Juden sein musst! Du bist jemand, der heimlich die jüdische Religion praktiziert, obwohl du weißt, wie streng das in unserem Land verboten ist! Wer erwischt wird, wird zu schrecklichen Todesstrafen verurteilt, und du wagst es ...“ Das Gesicht des Kardinals war ganz bleich geworden, er schien völlig gebrochen. Doch der Berater hatte noch mehr hinzuzufügen:
„Wie du weißt, ist es unsere Pflicht als Staatsbürger, die Behörden sogleich von jemandem zu informieren, der heimlich dem Judentum anhängt. Wenn du mir die Wahrheit sagst, und mir versprichst, künftig nichts mehr mit dem Judentum zu tun zu haben, dann werde ich dich nicht verraten.
Eine Weile blieb der Kardinal still, dann antwortete er: „Es stimmt, dass ich aus einer Familie stamme, die heimlich das Judentum hielt. Als ich zwölf Jahre alt war, erzählte mir mein Vater dieses Geheimnis. Er erklärte mir, dass ich in einem Jahr „Bar Mizwah“ sein werde und von da an verpflichtet bin, die jüdischen Gebote zu halten. Er warnte mich vor den schrecklichen Gefahren, die für geheime Juden in Spanien bestanden, und dass ich mich vor den Spionen der Behörden hüten muss. Aber, so sagte er, wir sind Juden und müssen diese Gefahr auf uns nehmen. Er kündigte an, dass er selbst mich für meine Bar Mizwah unterrichten werde. Das tat er dann jeden Tag in einem geheimen Raum im Keller unseres Hauses. Dort verbrachten wir morgens und abends je eine Stunde. Dort lernte ich, Tefillin zu legen. Später, als ich fünfzehn Jahre alt war, beschloss mein Vater, mich ins beste Priesterseminar des Landes einzuschreiben. Er sagte, als Priester hätte ich die Möglichkeit, meinen jüdischen Brüdern zu helfen. Denn durch meine Funktion würde ich frei überall ein- und ausgehen können, ohne Verdacht zu erwecken. So hätte ich auch die Möglichkeit, andere geheime Juden zu ermutigen, ihr Judentum so stark wie möglich zu erhalten. Ich könnte vielleicht auch das Vertrauen der Behörden so weit gewinnen, dass ich an Informationen herankomme, wenn Juden verdächtigt werden, und dann könnte ich die Betroffenen rechtzeitig warnen. Tatsächlich kam es so, und im Lauf der Jahre hatte ich Gelegenheit, vielen zu helfen. G-tt schützte mich vor allen Gefahren...“
„Aber wie kamst du auf die Idee, das Schema Jisrael auch mir ins Ohr zu sagen? Dachtest du etwa, dass ich einer jener heimlichen Juden sein könnte?“
„Nicht wirklich. Ich hatte keinerlei Grund, das anzunehmen. Aber ich habe mir mit der Zeit angewöhnt, wenn ich zu Sterbenden gerufen werde, der Person das „Schema-Jisrael“ ins Ohr zu flüstern, aus folgenden Gründen: Leider ist unter den jüdischen Familien, die gezwungen wurden, ihr Judentum zu verbergen, das Praktizieren ihrer Jüdischkeit nach und nach sehr zurückgegangen. Es ist gar nicht leicht zu wissen, wer vielleicht doch jüdisch ist, und wer nicht! So beschloss ich, das Schema Jisrael in jedem Fall zu sagen. – Wenn die betreffende Person gar nicht jüdisch ist, so wird man nicht wissen, worum es sich handelt, und es wird nicht schaden. Ist der im Sterben liegende Mensch aber tatsächlich jüdisch, dann werden die heiligen Worte des Schema Jisrael den jüdischen Funken in der Seele erwecken und noch im letzten Moment ein Gefühl der Umkehr hervorrufen, und diese Person wird fühlen, dass sie als Jude oder Jüdin stirbt.“
Eine Weile waren beide still, jeder in seine eigenen Gedanken verloren. Der Berater war der erste, der das Schweigen brach:
„Ich bin sicher, dass du mir die Wahrheit erzählt hast“, sagte er. „Aber bist du jetzt auch bereit, das alles hinter dir zu lassen, und künftig nichts mehr mit dem Judentum zu tun zu haben? Wenn nicht, habe ich keine andere Wahl, als dich anzuzeigen. Ich bitte dich, zwinge mich nicht, das zu tun.“
„Das kann ich dir nicht versprechen“, antwortete der Kardinal mit fester Stimme. „Tue was immer du glaubst, dass du tun musst. Ich aber bin bereit, mein Leben für meinen jüdischen Glauben zu geben, so wie es meine Vorfahren getan haben – mit dem Schema Jisrael auf ihren Lippen.“
Da erfasste den Berater eine riesengroße Freude im Herzen! Er sprang auf und umarmte begeistert den „Kardinal“. „Das ist es, was ich gehofft hatte, von dir zu hören“, rief er.
Der „Kardinal“ war höchst erstaunt, doch der Berater zögerte nicht mit seiner Erklärung:
„Du musst über mein Verhalten sehr verwundert sein. Höre, was ich dir zu erzählen habe. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Auch ich bin als Jude geboren, auch meine Eltern praktizierten ihr Judentum im Geheimen, so wie deine. Doch meine Eltern starben, als ich noch ein kleines Kind war, und ich wuchs bei meinem Onkel auf, der ein wichtiges Amt am Königshof ausübte. Kurz vor meinem 13. Geburtstag erzählte mir mein Onkel das Geheimnis, dass ich jüdisch war. Er ließ einen Lehrer kommen, der mich heimlich auf die Bar Mizwah vorbereitete. Aber damit endete meine jüdische Erziehung. Als ich erwachsen war, machte ich schnell Karriere und stieg in immer bessere Positionen auf. Nach dem Tod meines Onkels übernahm ich das Amt im Beraterkreis des Königs, das zuvor mein Onkel ausgeübt hatte. Seit damals geriet ich immer weiter weg von meinem Judentum, und mit der Zeit vergass ich ganz, dass ich eigentlich jüdisch war.“
„Als ich nun so schwer krank wurde“, erzählte der Berater weiter, „fühlte ich, dass meine Tage gezählt sind, und ich bald vor dem himmlischen Gericht eine Bilanz legen muss. Ich erinnerte mich daran, dass ich Jude war, und fühlte mich verängstigt und verwirrt. Wie konnte ich all diese Jahre meines Lebens so verschwenden? Wenn es wenigstens irgendeinen Weg gäbe, als Jude zu sterben, dann würde ich in Frieden, mit den heiligen Worten des Schema Jisrael, dahingehen. Aber so sehr ich mich auch bemühte, mir fielen die Worte nicht mehr ein! So viel hatte ich von meinem Judentum vergessen, dass ich sogar den Test des Schema Jisrael nicht mehr wusste! Dann plötzlich, wie in einem Traum, hörte ich die fernen Worte „Schema Jisrael HaSchem Elokejnu, HaSchem Echad!“ Mein ganzes Wesen wurde wieder vom Leben erfasst ... welch ein süsses Gefühl! Ich schwur einen Eid, dass wenn der Allmächtige mir noch eine Chance gibt, und mich weiter leben lässt, ich zu meinem jüdischen Glauben mit ganzem Herzen und ganzer Seele zurückkehren werde.
Nun verstehst du sehr gut, mein Freund und Bruder, wie dankbar ich dir bin, dass du mein Leben und meine Seele gerettet hast ...“
Kurz musste der Berater seine Rede unterbrechen um sich zu sammeln, denn seine Gefühle waren so stark, dass er die Tränen fast nicht zurückhalten konnte. Dann setzte er fort:
„Es gibt nicht genug Worte, um dir zu sagen, wie dankbar ich bin, aber vielleicht kann ich doch etwas für dich tun. Nun, nachdem ich mit G-ttes Hilfe wieder gesund geworden bin, habe ich über einen Plan nachgedacht, der uns beiden ermöglichen könnte, endlich diese schreckliche Verkleidung abzuwerfen, und offen als Juden zu leben, ohne Furcht – ausgenommen die Ehrfurcht vor G-tt. Bist du interessiert an so einem Plan?
„Ich wäre der glücklichste Mensch der Welt!“ rief der „Kardinal“ begeistert.
„Nicht ganz“, korrigierte ihn der Berater, „du wärest einer der glücklichsten; der andere wäre ich. Schau, mein Plan geht so: Ich will zum König gehen und ihm sagen, dass ich damals am Höhepunkt meiner schweren Krankheit einen feierlichen Eid schwor, dass ich, wenn G-tt mich überleben lässt, ins Heilige Land ziehen werde, um dort in stiller, heiliger Umgebung die letzten Jahre meines Lebens zu verbringen. Ich bin sicher, dass der König mir die Möglichkeit geben wird, meinen Eid zu halten. Und dann werde ich ihn noch um einen extra Gefallen bitten; nämlich dass du mit mir mitkommen kannst, um mein Lehrer zu sein. Was hältst du davon? Bist du einverstanden?
Selbstverständlich war der „Kardinal“ sofort einverstanden.
Nach einigen Wochen waren alle Vorbereitungen abgeschlossen. Der König ordnete an, dass seine beiden guten Freunde, der Berater und der vermeintliche Kardinal, mit allem Notwendigen für ihre Übersiedlung ins Heilige Land versorgt wurden und ließ sie mit großen Ehren verabschieden.
Nach einer langen und aufregenden Seereise kamen sie glücklich im Land Israel an.
Das Land Israel wurde damals vom Osmanischen Reich beherrscht, und die osmanischen Herrscher erlaubten es den Juden, ihre Religion frei auszuüben. So konnten der ehemalige königliche Berater und der ehemalige Kardinal ein ganz neues Leben dort beginnen, ein Leben von Torah, Mizwot und guten Taten. Sie ließen sich in der Stadt Zefat nieder, wo es bereits eine große jüdische Gemeinde gab, und sie daher genug Gelegenheit hatten, ausgiebig Torah zu lernen. Und ganz besonders kümmerten sie sich darum, anderen Juden zu helfen, ebenfalls ins Land Israel zu kommen, und so wie sie zu einem Leben von Torah und Mizwot zurückzukehren.
ב"ה
Diskutieren Sie mit