In einer kleinen Ortschaft lebte ein armer Jude namens Avraham mit seiner Frau und seiner Familie. Er hatte keinen festen Job, sondern verrichtete Hilfsarbeiten bei verschiedenen Leuten, wo immer er Arbeit finden konnte. Den ganzen Tag arbeitete er hart, und doch reichte das wenige Geld, das er verdiente, kaum aus, um seine Familie zu ernähren.
Doch jeden Abend vergaß Avraham seine Sorgen und all die Strapazen sobald er sich dem Tora-Studium widmete. Obwohl er immer einen harten Arbeitstag hatte, ließ er es sich nicht nehmen, abends auch noch zu lernen, denn er liebte das Tora-Studium sehr. Auch seine Frau freute sich, wenn sie sah, wie eifrig er lernte. Sie war eine gutherzige, ehrliche Frau, die sich nie über ihr schweres Leben beklagte.
Eines Tages hörte sie davon, dass in einer Stadt ganz in der Nähe ein großer Zaddik wohnte, dessen Brachot schon so manche Wunder gewirkt haben. Als ihr Mann abends nach Hause kam, und sich wie immer zum Torah-Studium setzen wollte, erzählte sie ihm davon, und sagte: „Ich glaube, du solltest zu diesem Zaddik fahren, und um eine Brachah für uns bitten. Sein Segen kann uns sicher helfen, aus unserer miserablen Lage herauszukommen ...“
Avraham zögerte etwas. Ob man einen so heiligen, gelehrten Mann mit den Problemen kleiner Leute belästigen sollte?
Doch seine Frau war sicher, dass es nicht falsch sein könne, den Zaddik um ein gutes Wort zu bitten. Also ließ sich Avraham überreden, kratzte sein letztes Geld zusammen, um die Fahrkarte zu kaufen und fuhr in die Stadt zum Zaddik. Er erzählte ihm von seiner drückenden Armut und der Zaddik antwortete ihm mit liebevollem Blick: „Armut, ebenso wie Reichtum, gehört zu den Prüfungen, mit denen HaSchem den treuen Glauben eines Juden testet. Wenn ein Jude fest in seinem Vertrauen zum Allmächtigen bleibt, geht dieser Test nach einer Weile zu Ende. Dein Test wird bald zu Ende sein.“
Bevor sich Avraham verabschiedete, forderte der Zaddik ihn auf, bei einer bestimmten Brücke, die er überqueren werde, zum Fluss hinunter zu gehen. Nahe am Ufer, genau unter der Brücke, werde er einen Schatz finden.
Avraham staunte, dass der Zaddik so genau wusste, dass sein Heimweg über diese kleine Brücke führte. Voller Hoffnung machte er sich auf den Weg, und als er zu jener Brücke kam, lief er zum Ufer hinunter, um nach dem Schatz Ausschau zu halten. Er suchte und grub eine Weile die Erde um, doch er fand nichts.
Als er enttäuscht aufblickte, sah er einen Bekannten über die Brücke kommen, ein Schuster, der seine kleine Werkstatt in der Straße, die zur Brücke führte, hatte. „Was machst du denn da, Avraham?“ fragte ihn der Schuster.
Avraham erzählte ihm die ganze Geschichte und meinte dann: „Wahrscheinlich ist die Zeit, einen solchen Schatz zu finden, für mich noch nicht gekommen. Es war wie ein süßer Traum...“
„Ja, die Träume!“ lachte der Schuster. „Ich erzähle dir auch von einem Traum. Letzte Nacht habe ich geträumt, dass da drüben am anderen Ufer eine ganz arme Familie wohnt, in einer ganz kleinen Wohnung, mit vielen Kindern. Kaum genug zum Essen haben sie, und wissen nicht, dass in der Küche gleich rechts vom Herd ein großer Schatz im Fußboden versteckt ist. Was sagst du zu diesem Traum?“
Avraham sagte nichts, sondern verabschiedete sich schnell und lief nach Hause.
Er hatte erkannt, dass der Traum des Schusters zu seiner eigenen Situation passte. Zu Hause angekommen konnte er es kaum erwarten, bis alle zu Bett gegangen waren. Dann ging er leise in die Küche und untersuchte den Fußboden neben dem Herd. Und tatsächlich fand er eine unebene Stelle im Boden – ein kleiner Kasten war hier zwischen den Brettern des Bodens versteckt! Es gelang ihm, den Kasten zu entfernen und das Loch wieder so zu verschließen, dass man nichts davon sah. Als er das Kästchen öffnete fand er darin eine ganze Sammlung von Schmuckstücken und Golddukaten.
Am nächsten Tag ging er mit seinem Schatz zu einem Auktionshaus, wo er den Schmuck verkaufen konnte – und er staunte nicht schlecht, als er eine riesengroße Geldsumme dafür bekam, denn es hatte sich herausgestellt, dass es sich um ganz feine echte Edelsteine handelte. Avraham beschloss, niemandem von seinem großen Geschenk zu erzählen. Er wollte nur jedes Monat einen kleinen Teil des Geldes entnehmen, nämlich das, was für den Lebensunterhalt seiner Familie notwendig war, und ein Zehntel davon als Zedaka für arme Leute. Wenn er das Spendengeld in die Zedaka-Büchse in seiner Synagoge einwarf, achtete er immer darauf, dass ihn niemand dabei sah.
Doch die Erinnerung an den Schuster, der ihm den entscheidenden Hinweis gegeben hatte, ließ Avraham nicht ruhen. Und auch beim Zaddik wollte er sich für die Brachah bedanken. Also füllte er zwei Börsen mit Golddukaten, eine für den Zaddik und eine für den Schuster, und machte sich auf den Weg.
Als er den Weg am Flussufer entlang ging, und schon die Brücke sah, bei der er einst den Schuster getroffen hatte, sah er, dass ihm jemand entgegen lief. Wie freute er sich, als er erkannte, dass es der Schuster war!
Auch der Schuster freute sich sichtlich und rief: „Ich bin froh, dass ich dich treffe! Du bist genau der, den ich suche!“
Noch bevor Avraham etwas sagen konnte, erzählte der Schuster mit aufgeregter Stimme:
„Du erinnerst dich, wie wir uns damals hier bei der Brücke getroffen haben. Du hast mir erzählt, dass der Zaddik dir Hoffnung gemacht hatte, hier einen Schatz zu finden. Erst nachdem du weg warst, fiel mir ein, dass der Schatz vielleicht am anderen Ufer des Flusses sein könnte. Ich lief über die Brücke und suchte drüben – und genau unter der Brücke, nahe beim Ufer war es, so wie du gesagt hast.
Einige Tage habe ich hin und her überlegt, ob das viele Gold wirklich mir gehört. Einerseits habe ich es gefunden. Andererseits hast du mich auf die richtige Idee gebracht. Ohne dich wäre ich nicht dazu gekommen.
Also beschloss ich, dass wir es teilen müssen. Ich wusste nicht genau, wo ich dich finden kann, aber ich konnte mich erinnern, in welcher Straße du wohnst. So habe ich mich gerade auf den Weg gemacht, um dich zu suchen - hier ist dein Anteil“. Mit diesen Worten hielt er Avraham eine große dicke Börse voll Goldmünzen hin.
Avraham war sprachlos und kam aus dem Staunen nicht heraus. Da war er auf dem Weg zum Schuster, um ihm seinen Finderlohn zu geben; und nun stand der Schuster vor ihm, und wollte seinerseits ihm einen Anteil von seinem Schatz geben!
Avraham war viel zu ehrlich, um dieses Geschenk einfach anzunehmen. „Jetzt muss ich dir etwas erzählen“, begann er seine Geschichte. „Und das ist der Grund, warum ich gerade am Weg zu dir bin...“
Avraham erzählte dem Schuster, wie er seinen Schatz in der Küche gefunden hatte, nachdem er erkannt hatte, dass der Traum des Schusters seine, Avrahams eigene Wohnung beschrieb. „Und hier ist dein Anteil, mein Freund!“ sprach Avraham und hielt dem Schuster eine Börse voll Golddukaten hin.
Beide waren außer sich vor Freude, jeder war glücklich, dass auch der Andere Erfolg gehabt hatte. Doch über ihre gegenseitigen Geschenke konnten sie sich nicht einigen. Jeder versuchte dem Anderen zu erklären, dass er sein Geld nur der Mithilfe des Anderen zu verdanken hatte, und wollte kein Geschenk annehmen. Und so sehr sie auch diskutierten, sie fanden keine Lösung. Schließlich beschlossen sie, den Zaddik zu fragen, mit dessen Brachah alles begonnen hatte.
Schnell machten sie sich auf die Fahrt in die Stadt um den Zaddik aufzusuchen.
Der Zaddik begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln und hörte sich interessiert die Geschichte der beiden an. Nachdem sie fertig erzählt hatten, sprach er zu ihnen: „Es wurde im Himmel beschlossen, dass ihr beide von der Last der Armut befreit werdet, denn ihr habt beide großes Vertrauen in G-tt bewiesen. Ich muss euch aber auch warnen, dass Reichtum vielleicht sogar eine noch schwierigere Prüfung eures Vertrauens in den Allmächtigen sein kann. Bis jetzt ist euch immerhin eine sehr guter Start gelungen, und euch ist euer plötzliches Glück nicht zu Kopf gestiegen. Macht weiter so, und HaSchem wird euch und euren Familien sicher weiterhin Segen geben.“
Auch was den Streit der beiden um den Finderlohn anbelangte, hatte der Zaddik einen Vorschlag: „Soweit ich weiss, hat einer von euch einen Sohn, der schon erwachsen ist und nach einer guten Ehefrau sucht, und der andere hat eine Tochter im gleichen Alter, die sehr gut zu ihm passen würde. Wenn die beiden heiraten wollen, so könnt ihr das Geld, das ihr füreinander bestimmt habt, der Braut und dem Bräutigam für die Ehe mitgeben.“
So kam es auch. Avrahams Tochter heiratete den Sohn des Schusters, der mit seinem Geld ein feines Schuhgeschäft auf der Hauptstrasse eröffnen konnte, und bei der Hochzeitsfeier wurden die beiden Börsen übergeben.
Noch einen Tipp hatte der Zaddik den beiden Familien gegeben: Noch bevor sie den Termin für die Hochzeit festsetzten, sollten sie sich bemühen, einem anderen jungen Paar, das nicht genug Geld für eine Hochzeit hatte, zu helfen. Beide taten das mit großer Freude. Gemäß den Anweisungen des Zaddiks fanden sie ein Weisenmädchen und einen armen jungen Mann, die großartig zueinander passten, jedoch kein Geld zum Heiraten hatten. Avrahams Familie stattete das Mädchen und die Familie des Schusters stattete den jungen Mann mit ausreichenden Mitteln aus, um eine Familie zu gründen. Auch weiterhin vergaßen Avraham und der Schuster nicht auf die Mahnung des Zaddiks, und waren immer bereit, bedürftigen Menschen in ihrer Gemeinde mit ganzem Herzen zu helfen.
ב"ה
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