In Rußland war das Leben eines Chassids viele Jahre lang ein ständiger Kampf der Selbstaufopferung. Wenn man das Leben so führte, wie es geführt werden sollte, konnte man in jedem Augenblick festgenommen, gequält und nach Sibirien geschickt werden. Das bedeutete, jede Woche einen neuen Grund zu finden, warum man am Samstag (dem Schabbat) nicht arbeiten konnte. Es bedeutete, die eigenen Kinder in einem geheimen Keller zu unterrichten, Schimpf und Lächerlichkeit dafür zu ertragen, wer man war. Es bedeutete, ständig das Leben eines Märtyrers zu führen.

Und dann kamen sie nach Amerika. Dort fanden sie keine Feinde. Doch ein neues Problem tauchte auf - kein Problem der Chassidim allein, sondern generell aller Juden, die in eine neue Welt auswanderten und die Verbindung zwischen all dem Neuen, was sie dort vorfanden, und dem, was sie hinter sich gelassen hatten, nicht knüpfen konnten.

Das gilt auch für jeden anderen Lebensstil, der «auswandern» muß: Wie gibt man der nächsten Generation etwas weiter, was noch nicht einmal für einen selbst in die neue Umwelt paßt?

Damit hat das menschliche Gemüt die größten Schwierigkeiten: vertraute Ideen mit einer völlig neuen Zeit und einem gänzlich ungewohnten Ort in Beziehung zu bringen.

Aber dann gibt es Seelen, die über der Ebene von Zeit und Raum weilen, selbst dann, wenn sie sich auf diese Ebene begeben. Der Rebbe kam in unsere Zeit.

Jene, die nicht weiter sahen, als es ihr eigener optischer Sehnerv erlaubte, sahen im Rebbe ein Relikt aus der Vergangenheit. Für andere hatte der Lebensstil der kleinen jüdischen Siedlungen in Europa keine Relevanz für das neue Leben in Amerika. Chassidismus war in einem früheren Jahrhundert eine schöne Sache - aber doch nicht jetzt. Und wiederum für andere hatte die Zeit des Märtyrerlebens aufgehört, und eine Ära der Freiheit und des Wohllebens hatte begonnen.

Der Rebbe aber sah das Wesentliche dieses Lebens, und das Wesentliche verändert sich nicht. Für den Rebbe waren diese Veränderungen nur eine neue und noch höhere Stufe auf der Leiter der Transzendenz des Ichs.

Selbstaufopferung in einem Land der Freiheit geht bis auf die Knochen. Ich habe Männer und Frauen gesehen, die in eiserner Selbstaufopferung gegen religiöse Verfolgung kämpften. Sie kamen dann in ein Land der Freiheit und der Bequemlichkeit - und wo blieb ihre Größe?

Heute wachsen viele Menschen in Freiheit und Bequemlichkeit auf, aber innerlich werden sie von der geistigen Leere zermalmt - das ist wie das Zerdrücken der Olive, um ihr Öl zu gewinnen. Das Öl ist in jeder Faser seines Wesens. Er wird vom Zaddik entzündet, und alle seine Fähigkeiten beginnen zu brennen. Dann leuchtet die Quelle des Lichts, die nie mehr versiegen oder getrübt werden kann. Das ist das Licht von Moschiach.


Selbstaufopferung bedeutet nicht, einfach von einer Brücke zu springen. Selbstaufopferung heißt nicht, sein Selbst zu opfern, sondern das «Ich will», «Ich brauche» und «Ich denke und ich meine ...» beiseite zu legen.

Selbstaufopferung ist der unterschwellige Antrieb für alle wirklich guten Werke. Da die Welt aber zunehmend materialistischer und die Herausforderungen immer größer werden, muß Selbstaufgabe bewußter geschehen.


Die biblische Versklavung in Ägypten stellt die Bindung an dein eigenes Ich dar. Jeden Tag, jeden Augenblick, muß ein Auszug aus dem Ich stattfinden. Wenn du nicht aus Ägypten ausziehst, wirst du keine Befreiung erlangen.


Die Philosophen der Antike teilten die Welt in vier Reiche, wobei jedes höhere Reich auf eine bestimmte Weise transzendenter war als das vorhergehende: Das Mineralreich, das Unbelebte - Erde, Steine, Wasser, usw. -, geht über seine Grenzen in keiner Weise hinaus. Das Pflanzenreich geht durch Wachstum über seine Grenzen hinaus. Das Tierreich geht durch Fortbewegung von Ort zu Ort über seine Grenzen hinaus. Und wie transzendiert der Mensch seine Grenzen? Der Mensch geht mit Worten, im Dialog, über sich selbst hinaus.

Nur der Mensch ist fähig, sich selbst durch die Ohren anderer zu hören. Nur der Mensch ist in der Lage, die Bindungen seines Ichs zu überwinden.


Habt ihr je vom «Heiligen im Pelzmantel» gehört! Er sitzt an seinem Kamin neben einem Stapel Holz. Aber es gibt kein Feuer darin. Das Haus und alle, die darin sind, zittern vor Kälte. Alle außer ihm. Er hat einen Pelzmantel an, und ihm ist warn. Wir fragen ihn also: «Warum wärmst du nur dich selbst? Warum zündest du kein Feuer in deinem Kamin an und wärmst die anderen auch?» Er antwortet: «Es geht nicht nur um mein Haus. Die ganze Welt ist bitterkalt. Erwartet ihr, daß ich eine ganze Welt heize?» Wir sagen ihm daraufhin, daß er nicht die ganze Welt heizen muß. Aber vielleicht könnte er einem anderen Menschen Wärme geben, vielleicht zweien. Vielleicht könnte er eine kleine Ecke der Welt erwärmen. «Zu einem Menschen, wie ich es bin», erwidert er, «paßt es nicht, nur eine Ecke zu beheizen.» Und so sitzt er weiter da, in seinem kalten, dunklen Haus, gemütlich in seinen Pelzmantel gehüllt.


G-tt verkündete Noah, daß die Welt zerstört werde. Noah fragte, was er tun solle. G-tt trug ihm auf, eine Arche zu bauen, um seine Familie und alle Tierarten zu retten. Noah baute eine Arche. Nach der Sintflut betrachtete Noah eine wüste, leere Welt und brach in Tränen aus. «O, Barmherziger Schöpfer», beklagte er sich, «wie konntest du das deiner Schöpfung antun?» G-tt antwortete ihm: «Jetzt weinst du? Jetzt beklagst du dich? Du dummer Hirte! Wo waren deine Klagen, als ich dir zum ersten Mal erschien? Hättest du deine Klage damals vorgebracht, so hättest du die Welt retten können!» Noah war ein gerechter Mensch; er war aber ein Zaddik in einem Pelzmantel.


Abraham war ein Zaddik aus ganz anderem Holz.

G-tt verkündete Abraham, daß Er Sodom und Gomorrha zerstören werde, Städte, die bis auf das Mark verrottet und böse waren. Abraham wandte ein: «Vielleicht gibt es dort gerechte Menschen! Wird der Richter von allem auf Erden nicht Gerechtigkeit walten lassen?» Abraham empfand das Verantwortungsgefühl eines Besitzers für die Welt, in der er lebte. Wenn etwas schlecht war, mußte es eben geändert werden. Sogar, wenn das der Wille G-ttes war.


Moses übernahm sowohl Verantwortung für das Dunkle als auch für das Licht. Er argumentierte nicht nur zugunsten der Gerechten, sondern setzte sich auch für jene ein, die gefehlt hatten.

Als das Volk G-tt durch die Anbetung eines goldenen Kalbes nur 40 Tage nach der Offenbarung der Absoluten Einheit am Berge Sinai verstimmte, mußte Moses zugeben, daß sie gefehlt hatten. Und doch tat er mehr, als nur für sie zu bitten: Er setzte sich mit seiner ganzen Person für sie ein.

«Vergib ihnen», bat er. «Und wenn du ihnen nicht vergibst, dann streiche mich aus dem Buch, das du geschrieben hast.»


Das ganze Wesen Moses war die Thora, die er seinem Volk brachte. Die Thora war mehr als seine Lehren. Sie war, was er war. Sie war sein G-tt in ihm. Aber als er sich zwischen der Thora und seinem Volk entscheiden mußte, entschied er sich für sein Volk. So war zwar sein ganzes Sein die Thora, doch tief in seinem Wesen, im innersten Kern, war die Einheit mit seinem Volk.

(Der Rebbe weinte, als er diese Worte sprach.)


Demut muß wahrhaftig sein. Wahre Demut bedeutet, das Ich zu transzendieren. Moses, heißt es, war der demütigste aller Menschen. Offensichtlich wußte er, wer er war. Er wußte, daß von allen Menschen er allein auserwählt war, die größte Aufgabe der Geschichte zu erfüllen - ein ganzes Volk aus der Versklavung zu führen und ihnen die größte Offenbarung zu bringen, die es je geben würde. Er war der erhabenste aller Propheten, der direkt mit G-tt sprach, wann immer er es wünschte. Er wußte all dies und war doch so demütig. Denn Moses selbst sagte: «Das ist nicht mein Verdienst. Das alles habe ich mithilfe der Kräfte getan, die G-tt mir gegeben hat. Wenn ein anderer dieselben Kräfte erhalten hätte, hätte er die Aufgabe vielleicht besser erfüllt.»


Vertrauen findet man am besten unter den wahrhaft Demütigen. Moses, heißt es, war der demütigste aller Menschen. Und doch hatte er genug Vertrauen, um vor dem mächtigsten Herrscher der Erde zu stehen und seine Forderungen zu stellen. Er hatte das Vertrauen, sich vor G-tt hinzustellen und ihm zuzuhören, ohne sein inneres Gleichgewicht zu verlieren. Er hatte sogar das Vertrauen, mit G-tt zu argumentieren, wenn es nötig erschien. Und doch betrachtete er sich als nichts.

Moses Vertrauen beruhte nicht auf seinem eigenen Ich, sondern auf dem Höchsten Wesen. Er hatte kein Ich. Er war nur ein Mittler von Oben. Selbstvertrauen ist stets begrenzt. Wenn du aber dem Einen vertraust, der dich ausgesandt hat, um hier zu sein und das zu tun, was du tun mußt, kennt ein solches Vertrauen keine Grenzen.


Wir alle haben Grenzen - sind wir nicht schließlich aus Fleisch und Blut? Es gibt jedoch Zeiten, in denen wir diese Grenzen durchbrechen müssen. Du mußt mehr tun, als du eigentlich schaffen kannst. In Wahrheit hast du nicht nur eine Tier-Seele, sondern auch eine G-ttliche Seele - und G-ttlichkeit kennt keine Grenzen.


Gutes zu tun heißt nicht, nett zu sein. Du kannst den ganzen Tag lang für viele Menschen nette Dinge tun, aber daher steckt unter Umständen nur Dienst am eigenen Ego. G-tt hat eine Welt, in der sich Menschen gegenseitig brauchen, nicht geschaffen, damit du nett bist, sondern um dir eine Gelegenheit zu geben, den Grenzen deines eigenen Ichs zu entfliehen. Deshalb sagt die Thora: «Wenn du den Esel deines Feindes unter seiner Last zusammenbrechen siebst, und deine instinktive Reaktion darin besteht, ihm damit allein zu lassen - dann mußt du ihm ganz sicher helfen.»

Wenn du denen hilfst, die Dankbarkeit zeigen, wenn denen eine Hand reichst, die auf deiner Seite sind, dann bist du noch immer im Reich deines eigenen Ichs. Hilf jemandem, dem du nicht helfen möchtest. Hilf ihm und lerne, ihm helfen zu wollen - nur, weil das das Rechte ist. Das fühlt sich anfangs vielleicht nicht sehr lohnend an. Aber du bist frei geworden.


Wenn wir und der Weg, den wir ausgesucht haben, gut zusammenpassen, ist es nicht einfach, zu erkennen, ob unsere Motive ehrlich und ernsthaft sind. Wenn wir jedoch einen Weg kreuzen, auf dem Gutes zu tun ist, und wir spüren, daß sich alles in uns, jede Zelle unseres Gehirns, gegen diesen Weg sträubt, wenn wir nur fortlaufen und uns davor verstecken wollen - dann sollten wir diesen Weg gehen! Dann werden wir wissen, daß unsere Motive aufrichtig sind.


Mache es zu einem Teil deines Lebens, Werke zu tun, die dich über deine Grenzen hinausführen. Indem du Menschen hilfst, die nicht Teil deiner Familie oder deines Freundeskreises sind, indem du etwas tust, was nicht in dein Selbstbild hineinpaßt. Entfliehe dir selbst.


Die Welt ist kein vernünftiger Ort. Begegne ihr nach ihren eigenen Regeln: Wenn du etwas Gutes tun willst, tue es, auch wenn es jeder Vernunft widerspricht.

Wahres Glücklichsein ist die höchste Form der Selbstaufopferung. In diesem Zustand gibt es kein Ichdenken mehr, noch nicht einmal mehr das Bewußtsein, daß wir glücklich sind. Wahres Glücklichsein ist jenseits des «Wissens», jenseits des Ichs.


Es gibt Menschen, die glauben, Gutes zu tun, indem sie das Ego anderer Menschen niedermachen oder - wie man sagt - «bei lebendigem Leibe verschlucken». Die Egos jener, denen sie nicht helfen können, und jener, die ihnen nicht helfen können, sind ungenießbar für sie - und deshalb unerträglich. Sie können mit anderen Menschen nicht zusammenarbeiten, weil ihre Egos «den anderen» keinen Raum lassen. Raum gibt es nur für die Ausdehnung ihres eigenen aufgeblasenen Ichs, das andere braucht oder von ihnen gebraucht wird. Du liebst deinen Nächsten nicht, um dein eigenes Ich zu verherrlichen. Wenn du deinem Bruder hilfst, laß dein eigenes Ich zurück. Liebe in Selbsthingabe.


Von unserer Generation werden keine großen Dinge erwartet. Die früheren Generationen haben all das schon für uns getan. Wir müssen nur die kleinen Dinge tun - aber in einer schwierigeren Zeit. Für uns könnte Selbstaufopferung einfach bedeuten, eine Gewohnheit zu ändern.