Niemand erhebt sich über die Erde, indem er sich an den eigenen Haaren hinaufzieht. Ein Gefangener kann sich nicht selbst aus seinem Gefängnis befreien. Er muß sich erst mit jemandem verbünden, der schon frei ist. Und so suchte ich bereits in jungen Jahren nach einem Menschen, der mich führen konnte, nach einem Mentor, einem Lehrer. Wer aber will schon dein Führer sein, wenn du nur deinem eigenen Weg folgen willst?

In den frühen siebziger Jahren lernte ich die verschiedensten Lebensphilosophien und Lehren kennen: Ich praktizierte Tai Chi, Meditation und Yoga, wurde zum strengen Vegetarier und nahm an zahllosen «Encounter-Gruppen» teil. Meine Reisen führten mich durch ganz Nordamerika, nach Europa und Israel, und überall traf ich andere suchende Seelen, die bald auf diesem, bald auf jenem Pfad Antworten auf ihre drängenden Fragen suchten.

Ich kehrte zwar mit einem erweiterten Horizont zurück, aber noch immer als leere, durstige Seele. Nichts von dem, was ich gesehen hatte, war für mich bestimmt. Wenn du suchst, spielt es keine Rolle, wo du suchst - dein eigenes Selbst findest du erst ganz zuletzt.

Ich erinnere mich, daß ich von ganzem Herzen betete - nicht, um irgendwelche Antworten oder Offenbarungen zu erhalten, sondern weil ich das Bedürfnis hatte, von Herz zu Herz mit meinem G-tt zu sprechen, was in unserer komplizierten Welt nicht einfach ist.

Wenn ein Fisch zum Meer kommt, muß er hineintauchen. Als ich zum ersten Mal einen Vortrag über chassidische Mystik hörte, machte es mir nichts aus, daß ich von dem, was gesagt wurde, fast nichts verstand. Regen kommt über ein generationenlang ausgedörrtes Land wie ein Fremder, aber die Erde erinnert sich daran. Was meinem Verstand fremd war, fühlte sich im Bauch altvertraut an.

Die ersten Wasserspritzer kamen von einem reisenden Schüler des Rebbe. Er erklärte mir, daß es unser Lebenssinn wäre, die G-ttlichkeit in allen geschaffenen Dingen wahrzunehmen. Doch ich verstand, daß es um sehr viel mehr ging: Um mindestens einige Tausend Jahre kollektiver Weisheit und Schönheit. Ich wollte wissen, wer solche Dinge lehrte. Ich sehnte mich nach tieferem Verständnis. Es hieß, es gäbe einen Rebbe in New York, den «Lubawitscher Rebbe».

Der Rebbe ist der Titel, mit dem Rabbi Menachem Mendel Schneerson in der jüdischen Welt weithin bekannt wurde. Rebbe heißt Lehrer. Der Begriff bezeichnet einen Meister des mystischen Pfades der chassidischen Tradition, wie er vom Baal Schem Tow gelehrt wurde.

Lubawitsch ist sowohl eine Stadt in Weißrußland als auch ein Stadtteil von Brooklyn und eine internationale Organisation. Die Stadt Lubawitsch in Rußland war der Sitz einer Linie chassidischer Meister, die dem praktisch-mystischen Pfad des Baal Schem Tow folgten, wie er von Rabbi Schneur Salman von Ljadi ausgelegt und fortgeführt wurde. Bei Ausbruch des zweiten Weltkriegs verlegte Lubawitsch seinen Sitz nach Brooklyn.

Menachem Mendel Schneerson war es, der wohl am meisten zur Erneuerung des traditionellen Judaismus beigetragen hat, nachdem dieser mit dem Holocaust fast mitbegraben worden war. Er wurde 1902 als Sohn der Chana Schneerson und des Kabbalisten und Rechtsgelehrten Rabbi Levi Yitzchaak Schneerson geboren, des Oberrabbiners von Jekitranislaw in der Ukraine. Er lernte zu Hause, weil der Schullehrer sich beklagte, daß er ihm nichts mehr beibringen könnte.

In seiner Jugend gab ihm sein Vater die Erlaubnis, Naturwissenschaft, Mathematik und Sprachen zu studieren, allerdings mit der Ermahnung: «G-tt behüte, daß irgendeine deiner Studien dich von deinen sechzehn Stunden Thora-Studium abhalten sollte.» Der junge Menachem bestand sechs Monate später die Staatsprüfung. In dieser Zeit erwarb er auch Grundlagen in Englisch, Italienisch, Französisch, Grusinisch und Lateinisch. In den Jahren von 1932 bis 1940 studierte er Natur- und Geisteswissenschaften an der Universität von Berlin und an der Sorbonne in Paris. 1941 floh er aus dem von den Nazis besetzten Frankreich in die USA. Kurze Zeit arbeitete er als Ingenieur in der US-Marine. Seine Arbeit galt als «geheim».

Als der damalige Rebbe von Lubawitsch 1950 verschied, wandten sich die überlebenden Lubawitscher weltweit sofort an seinen Schwiegersohn, Rabbi Menachem Mendel Schneerson. Obwohl er sich hinter moderner Kleidung verbarg und jede Form von Prestige vermied, erkannten sie ihn als einen bedeutenden Gelehrten und Führer. Die Chassidim flehten ihn an, die Führung zu übernehmen. Er lehnte wiederholt ab. Er meinte, er würde sich zu gut kennen, um sich einzubilden, daß er diesem Auftrag gerecht werden könnte. Als eine Delegation älterer Chassidim mit einer Petition kam, in der sie Rabbi Schneerson als ihren Rebbe annahmen, legte er den Kopf in seine Hände und begann zu weinen. «Bitte laßt mich in Frieden», bat er. «Ich habe damit nichts zu tun.»

Erst nach einem ganzen Jahr solcher Geschehnisse übernahm der Rebbe schließlich die Aufgabe und Position. Und sogar das erfolgte nur unter einer Bedingung: «Ich werde helfen», erklärte der Rebbe, «aber jeder von euch muß seine eigene Mission vorantragen. Erwartet nicht, daß ihr euch einfach an die Fransen meines Gebetsschals hängen könnt.»

Ich fühlte mich von Beginn an von den Lehren des Rebbe inspiriert. Ich mußte mehr über diesen Mann herausfinden. Freunde, Verwandte und Bekannte warfen mir daraufhin Idolverehrung vor. Sie meinten, daß ich mein eigenes Denken und meine Unabhängigkeit aufgäbe.

Vom Verstand her mußte ich ihnen recht geben. Schließlich waren dies ja genau die Gründe, warum ich keinem anderen Guru oder Mentor weiter als ein paar Schritte gefolgt war. Ich wollte meinen eigenen Weg gehen und nicht bei lebendigem Leibe von einem übermächtigen Meister geschluckt werden.

Dieser Konflikt hielt viele Jahre lang an. Mancher Dinge ist man sich intuitiv ganz sicher, aber das Ego mit all seinen Rationalisierungen weigert sich, dem inneren Wissen Platz zu machen. Nichtsdestotrotz bin ich heute ein Chassid des Rebbe und immer noch mein eigener Mensch. Der Rebbe war nie jener ego-verschlingende Demagoge, vor dem ich mich so gefürchtet hatte.

Zunächst einmal gab es keinerlei Pomp um ihn herum. Keine majestätisch fließenden Gewänder. Keinen wunderbaren Landsitz. Kein Privatflugzeug. Statt dessen ein bescheidenes Heim, mit Geschmack eingerichtet, und ein schlichtes Büro. Nichts Äußerliches unterschied ihn von irgendeinem seiner Chassidim.

Er brauchte keine große Show. Das Ego spielte bei all dem keine Rolle. Der Rebbe war ein Meister der Einfachheit, ein Meister darin, nichts zu sein und einfach die wesenhafte G-ttlichkeit der Seele strahlen zu lassen. So war er in der Lage, andere zu führen, ohne sie aufzuzehren.

Viele Jahre hindurch gab der Rebbe Privataudienzen an drei Abenden der Woche. Außer den Lubawitscher Chassidim kamen Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen - jüdische Aktivisten, Geschäftsleute, Wissenschaftler, Politiker, Journalisten -, um auf ihr persönliches Gespräch zu warten. Der Rebbe sprach herzlich mit jedem einzelnen, gab Führung und Rat, wenn er darum gebeten wurde, und segnete ihn, auch dann, wenn man ihn nicht darum bat.

Die Gespräche begannen um acht Uhr abends und dauerten bis in den frühen Morgen hinein. Nach einer solchen Nacht dauerte es bis um halb elf am nächsten Tag, bevor der Rebbe endlich zum Morgengebet kam. In der folgenden Nacht waren noch mehr Gesprächswünsche eingetragen. Der persönliche Sekretär des Rebbe bat ihn einmal, diese Nachttermine abzusagen, um sich eine Erholungspause zu gönnen. Aber der Rebbe antwortete, er könnte nicht Menschen absagen, die schon so lange auf ein Gespräch gewartet hätten. Der Rebbe war den ganzen Tag über beschäftigt wie immer. Die Privataudienzen in der Nacht dauerten dieses Mal sogar bis elf Uhr am nächsten Morgen.

Mein rebellischer Geist fand im Rebbe den allergrößten Rebell. Ich könnte sogar sagen, daß man sich dem Rebbe nicht unterordnete oder unterwarf, sondern mit ihm zusammen rebellierte. Es ist eine lange Tradition bei den Rebbes von Lubawitsch, das Monster, das die Welt vorgibt zu sein, zu verachten und sich ihm zu widersetzen. Sie folgen einem inneren Wissen, nicht der oberflächlichen Wahrnehmung ihrer äußeren Augen. Es ist kein Wunder, daß jeder der Vorgänger des Rebbe zeitweise in einem zaristischen oder kommunistischen Gefängnis einsaß. Der Rebbe selbst war gezwungen, sich zu verstecken, bevor er Rußland verlassen konnte.

Der Rebbe war ein orthodoxer Rebell, ein traditionsreicher Radikaler. In den 60er Jahren schaute das jüdische Establishment mit Mißfallen und Verachtung auf das, was ihre Jugend machte und klagte: «Studentenunruhen! Hippies und Ausgeflippte! Das ist ja eine völlig verrückte und verlorene Generation.»

Der Rebbe dagegen erklärte: «Endlich fängt der Eisberg von Amerika an zu schmelzen! Endlich erkennen die jungen Leute, daß sie sich nicht anpassen müssen! Sie haben die Idole ihrer Eltern zerschmettert, jetzt müssen sie nur zu den lebensspendenden Wassern ihrer Urgroßeltern zurückgeführt werden!» Der Rebbe trug seinen Chassidim auf, nach draußen zu gehen und junge Juden wieder in Verbindung mit ihren Wurzeln zu bringen. Er wurde jahrelang deswegen verspottet. Erst nachdem sich dieses Vorgehen als erfolgreich erwies, sprangen jene, die sich vorher über ihn lustig gemacht hatten, auf den fahrenden Zug auf. Er war immer ein Einzelgänger, der nicht mit anderen über seine Pläne sprach, bevor er sie in die Tat umsetzte, und wurde deshalb von ihnen häufig wegen seiner ungewöhnlichen Ideen kritisiert, die sie unglaublich und unmöglich fanden. «Ich kenne diese Taktik schon», sagte der Rebbe einmal. «Als ich ein junger Bursche war, wurde ich von Amtspersonen oft zum Verhör bestellt, weil ich der älteste Sohn des Rabbis in einer russischen Stadt war. Sie machten sich lustig über mich und beschimpften mich. Ich reagierte auf keine ihrer Taktiken. Also werde ich auch jetzt nicht reagieren».

Der Rebbe hatte diese radikale Haltung auch in bezug auf organisatorische Angelegenheiten. Lubawitsch wurde zu einer Organisation, in der die Aktion von unten kam. Selten, wirklich sehr selten, ordnete der Rebbe konkret etwas an, das getan werden sollte. Es gab immer Vorschläge von vielen. Von den Chassidim wurde erwartet, daß sie die Initiative ergriffen und taten, wovon sie glaubten, daß es funktionieren würde. Mehrere Male vereitelte der Rebbe Versuche, eine rigide Hierarchie zu schaffen, die die Entscheidungen in und für Lubawitsch treffen sollte. Jeder Mensch muß seinen Mentor finden, und jeder Mentor seinen Mentor.

Es gab niemals Anhänger des Rebbe, es gab keine Gefolgschaft -Anhänger hätten mit ihm gar nicht Schritt halten, sie hätten ihm gar nicht folgen können. Der Rebbe hatte nur Anführer. Solche, die mit ihm rebellierten.

Simchas Thora ist ein festlicher jüdischer Feiertag. Jedes Jahr zu dieser Zeit versammelten sich Tausende von Chassidim und anderen Juden am Gebetsort des Rebbe -770 Eastem Parkway, Brooklyn, New York -, um die ganze Nacht hindurch zu singen und zu tanzen.

Am Simchas-Thora-Tag 1978 wurde der Rebbe inmitten der Festlichkeiten bleich. Er erhob sich plötzlich von seinem Platz, ging durch die Halle und die Treppe hinauf in sein Büro und schloß die Tür hinter sich. Nur seiner Frau gelang es, ihn zu überreden, die Tür aufzuschließen.

Offensichtlich hatte der Rebbe einen Herzanfall erlitten. Er hatte, wie es charakteristisch für ihn war, die fröhliche Stimmung nicht stören wollen. Die besten Ärzte wurden sofort gerufen. Sie mußten zum Rebbe kommen, da er sich weigerte, sein Büro zu verlassen. Als der Rebbe fragte, was die Menschen unten in der Synagoge machten, sagte man ihm, daß sie weinten und beteten. Er bat: .Sage ihnen, daß ich mich desto besser fühlen werde, je mehr sie singen und tanzen.» Die Chassidim tanzten und sangen in dieser Nacht, wie sie es niemals zuvor getan hatten.

Der Rebbe verbrachte mehrere Wochen in seinem Büro, betreut von Ärzten. Es war bekannt, daß die gesündeste Beschäftigung für das Herz des Rebbe das Studium der heiligen Schriften war. Die anstrengendste Betätigung war, die Briefe zu lesen, die er erhielt. Viele dieser Briefe kamen von Menschen in Not, die um seinen Segen und Rat baten. Das Herz des Rebbe schlug dann unruhig und ungleichmäßig im Mitgefühl für ihre Leiden und Sorgen. Als die Ärzte versuchten, den Fluß der Briefe zu stoppen, die ihm übergeben wurden, griff der Rebbe ein. «Ihr versucht, mir mein Leben wegzunehmen», protestierte er.

Es ist alles umsonst, sage ich dir. Solange du draußen stehst - wie könnte ich dir die Beziehung von einem Chassid zu seinem Rebbe beschreiben? Es gibt einen tiefgefühlten inneren Bund, voller Empfindungen jenseits aller Worte. Also, hier ist mein Buch. Es stimmt, daß der Rebbe jetzt schon seit über einem Jahr begraben ist, aber die Verbindung zu seinem Geist besteht, und sein Geist ist lebendiger und stärker als je zuvor. Wenn du dich auf dieses Buch einläßt und mit diesem Buch lebst, kannst du vielleicht auch etwas von diesem Bund spüren.

Und dann können wir darüber sprechen, was ich versäumt habe, in Worte zu kleiden.

Ein bekannter Schriftsteller kam zu einer Privataudienz mit dem Rebbe. Nachdem er das Büro des Rebbe verlassen hatte, wandte er sich an die Chassidim und klagte sie an: «Ihr seid Diebe! Ihr bestehlt die gesamte Welt! Ihr habt den Rebbe genommen und ihn zu eurem exklusiven Eigentum gemacht, als ob er ein Rebbe nur für euch Lubawitscher Chassidim wäre. Der Rebbe ist aber der Rebbe der ganzen Welt!»

Befreien wir ihn, du und ich.

Tzvi Freeman