Nun will ich wieder zu Riva und ihrem Gesundheitszustand zurückkehren. Der machte meinen Eltern nämlich große Sorge. Sie war auf salzfreie Diät gesetzt, die schien aber nicht anzuschlagen. In Wahrheit war die Diät aus gutem Grund unwirksam. Riva mochte salzige Dinge. Wenn keiner da war, kroch sie aus dem Bett heraus und nahm sich, was sie an scharfen und salzigen Sachen finden konnte, wie eingelegte Gurken, Hering und so etwas. Das führte immer wieder zum Anschwellen ihrer Wange und einer Verschlechterung ihres Allgemeinzustands. Keiner merkte den Grund für diese Verschlechterung. Sie war zu jung, um zu verstehen, dass sie das selbst herbeigeführt hatte.

Eines Tages lag sie im Bett, während Vater an einem Tisch dicht daneben saß und voller Konzentration schrieb. Als er fertig war, wandte er sich ihr zu und sagte, "Siehst du, mein Kind, ich habe gerade einen Brief an den Rebbe (den früheren, sechsten Lubavitcher Rebbe) über deinen Gesundheitszustand geschrieben, und ihn um einen Segen für deine rasche Genesung gebeten. Ich kann den Brief nicht auf dem normalen Postweg schicken1, und deshalb lege ich ihn hier zwischen die Seiten dieses Sefer (Buches) des Rebbe. Ich vertraue auf G-tt, dass dem Rebbe diese Botschaft übermittelt wird, und dass der Segen, wenn es G-tt so gefällt, zu rechten Zeit gesandt wird.

Riva war von verschiedenen Gefühlen überwältigt. Sie hatte zunächst einmal nie zuvor die Tiefe der Gefühle ihres Vaters für sie erkannt und seine große Sorge um ihre Gesundheit. Dann spürte sie tiefe Reue, dass sie bei ihrer Diät geschummelt und ihm so viel Kummer verursachte hatte. Und außerdem schien ihr alles ein großes Rätsel zu sein. Was würde passieren? Würde der Rebbe kommen und den Brief an sich nehmen, oder würde das Buch mit dem Brief zum Rebbe fliegen oder was? Eines stand für sie fest: Sie würde nicht mehr bei ihrer Diät schummeln. Und sie tat es auch niemals mehr.

Ein paar Tage später kam Vater in sehr erhobener Stimmung heim. Aufgeregt erzählte er der Familie von einer Begegnung mit einem anderen Chassid, den er viele Jahre zuvor gekannt hatte. Dieser Chassid fragte Vater, warum er so niedergeschlagen und besorgt aussähe. Vater erzählte ihm vom kummervollen Gesundheitszustand seiner kleinen Tochter. Der Chassid hatte eine nützliche Empfehlung. In Georgien wuchs eine bestimmte Rose, deren junge, ungeöffnete Knospen zerstampft und für medizinische Zwecke verwandt wurden. Sie halfen bei einer Reihe von Krankheiten und der Chassid wusste genau, dass man sie auch bei Nierenproblemen einsetzte. Er gab Vater die Adresse, wo man sie per Postversand bestellen konnte.

Vater verlor keine Zeit, die kostbaren Rosenknospen zu bestellen und nach einiger Zeit kam wirklich ein Päckchen an, dass Knospen enthielt. Man musste sie aufkochen, wie Tee, und dem Patienten dann zu trinken geben. Sie halfen, G-tt sei gedankt, tatsächlich innerhalb recht kurzer Zeit und Riva war geheilt.

Der Brief an den Rebbe hatte das erwünschte Ergebnis erbracht, nämlich den Segen des Rebbe. Vaters Vertrauen in Haschem und seinen Rebbe wurden belohnt.

Ich hoffe sehr, dass es mir durch die Berichte von unserem Vater gelungen ist, das Wesen seines Charakters und das Ausmaß seiner Selbstaufopferung für das Judentum darzustellen.

Eine kleine Geschichte möchte ich jedoch noch erzählen. Es ist eine Geschichte, aus der wir alle etwas über die Erziehung von Kindern lernen können.

Eine gewisse Dame, die unserer Familie vertraut war, lebte am Rande Leningrads. Eines Tages lud sie unsere älteste Schwester Soroh ein, einige Urlaubstage bei ihr zu verbringen. Natürlich müsste erst Erlaubnis eingeholt werden, und sie entschieden sich, gemeinsam zu Vater zu gehen. Überraschenderweise erlaubte es Vater ihr. Überglücklich sagte die Frau leise wie nebenbei zu Soroh, "Wir werden eine wunderschöne Zeit miteinander verbringen, ein paar Mal ins Kino gehen, und ..." Sie kam nicht weiter. "Entschuldigung, Ich habe meine Meinung geändert, sie kann nicht mit zu Dir kommen." Vater war höflich, aber entschieden.

Die Frau versuchte, die Situation zu retten, "Das habe ich doch gar nicht so gemeint, ich habe nur Spaß gemacht. Außerdem hast Du ja deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Du das nicht wünschst, und also werden wir nicht ins Kino gehen. Du kannst mir vertrauen, dass ich Deine Tochter mit nichts in Berührung bringe, was nicht Deine Zustimmung findet."

Es nutzte nichts. Vater stimmte nicht zu. Allein der Gedanke ihrer ersten Absichten war Grund genug, sein Kind nicht bei ihr bleiben zu lassen. Sie war offensichtlich keine geeignete Gefährtin für seine Tochter. Die Seelen jüdischer Kinder sind so rein und diese Reinheit muss bewahrt und darf nicht irgendwie verschmutzt werden, G-tt behüte, durch unerwünschte Amüsements oder auch nur den geringsten Verdacht davon, oder auch durch Menschen, die solche Zerstreuungen pflegten.

Das war also der Chinuch, den Vater für uns bereit hatte, und der stark genug war, um uns durch die Tragödien der Kriegsjahre und späterer Härten zu bringen, die das Leben uns bot. G-tt sei Dank wurden wir schließlich mit unseren Verwandten wieder vereinigt und ich bin sicher, dass wir aufgrund der Verdienste unserer Eltern privilegiert wurden, die goldene Kette der Jiddischkeit aufrecht zu erhalten und sie an die nächsten Generationen weiter zu geben. Ich bin gleichfalls sicher, dass es der hohe Standard von Vaters Chinuch war, der es uns möglich gemacht hatte, die verschiedenen Herausforderungen an unsere Jiddischkeit während der Kriegsjahre zu bestehen, wie sie in Teil 2 (Die Kriegsjahre) berichtet werden.

Bevor ich dazu komme, doch noch eine Geschichte über Geburtstage. An meinen sechsten Geburtstag erinnere ich mich voller Freude. Es ist auch der einzige, an den ich mich aus meiner frühen Kindheit erinnere. Nein, es gab keine Geburtstagsparty. Wer konnte in jenen schweren Jahren an Parties denken? Ich erinnere mich aber, mich glücklich gefühlt zu haben. Ich erinnere mich, dass Vater an einem Tisch stand. Er musste gerade mit dem Beten fertig beworden sein. Das war bereits genug. Ich spürte, dass mein Vater Freude an mir hatte und ich glühte nur. Mein Kelch war voll! erinnere mich vage an seine Tefillin. Vater schaute auf, sah mich dort, und sein Gesicht leuchtete auf. Strahlend verkündete er, dass heute mein sechster Geburtstag war.