Meine Schwester Riva und ich wurden in St. Petersburg (Leningrad) geboren, in den frühen 30er-Jahren. Wir waren die zwei jüngsten von vier Kindern. Wir hatten einen älteren Bruder Jizchok und eine Schwester Soroh Relka.
Mein Vater Awrohom Jeshja Schapiro war ein Lubawitscher Chassid mit einem sehr hohen Anspruch in Bezug auf Avodat Haschern (Dienst fur G-tt) war sehr hoch. Im Buch "Lubavitch Vechayoleho" (Lubawitsch und seine Soldaten), heißt es zur Beschreibung unseres Vaters, "Er war bekannt für seinen Dienst für G-tt in Form langer Gebete und seine völlige Hingabe und Selbstaufopferung für die Anliegen des Frierdike Rebbe1 (der frühere Lubawitscher Rebbe)."
Seine Haltung in Bezug auf die Erziehung seiner Kinder zeigt am besten, welche Art von Mensch er war und was für ihn am meisten zählte. Am wichtigsten im Leben meines Vaters war sein Ziel, seine Kinder als g-ttfürchtige Juden zu erziehen. Sein Verlangen danach war so groß, dass es wie eine alles verzehrende Flamme wirkte. Seiner Kinder Chinuch (Erziehung) musste die beste sein, und so widmete er ihr sein ständiges Denken und seine Aufmerksamkeit.
Das bedeutet nicht, dass er sie zur Schule schickte. In jenen Tagen gab es in Russland keine jüdischen Schulen Es heißt einfach, dass er sie selbst unterrichtete, sie anleitete, sie überwachte und sich so umfassend einsetzte, dass ihre Erziehung zu einhundert Prozent der Heiligen Tora entsprach. Alles, was auch nur einen entfernten Zweifel aufwarf, ob es erlaubt wäre, wies er vollständig von sich und stellte sicher, dass auch seine Familie dies tat.
Ein alter Chassid, der ihn gut kannte, sagte über ihn, "Wenn der Frierdike Rebbe Jeschaja aufgetragen hätte, durch die Wand zu gehen, hätte dieser das sicher umgehend getan. In der Wand hätte sich ein Loch aufgetan, damit er hindurch gelangen könnte." So groß war sein absolutes Vertrauen und sein Glaube an den Frierdike Rebbe.
Meine Mutter, Bluma war eine Eeschet Chajil (eine heldenmütige Frau) im wahren Sinn des Wortes, die alle Grundsätze meines Vaters aufrechterhielt. Für mich war sie natürlich jemand ganz Besonderes und diese "Besonderheit" hat sich nie abgenutzt. Ich liebte sie so, wie Kinder es tun und habe niemals aufgehört, sie zu vermissen. Ich erinnere mich genau daran, dass ich mich an einer Gewissheit gefreut hatte, mehr Glück als andere Kinder zu haben, weil sie keine Mutter wie meine hatten, die so lieb und teuer war.
Unglücklicherweise dauerte dieser Zustand nicht allzu lang, wie später berichtet wird. Mögen die Verdienste unserer Eltern, uns alle schützen.
Wir lebten in einer Einundeinhalb-Zimmer-Wohnung am Nyevskey Prospekt. Die Küche wurde von vier Nachbarn geteilt, die alle ihren eigenen Tisch hatten. Unsere Nachbarn waren zwar Juden, jedoch nicht religiös, und sie trugen nichts dazu bei, unser Leben leichter zu machen, um das Wenigste zu sagen. Beim Pessach-Fest musste alles Kochen in der Wohnung erledigt werden2, weil es nicht möglich war, Pessach in einer Gemeinschaftsküche einzuhalten.
Unsere Möbel bestanden, soweit ich mich erinnere, aus einem Tisch, vier hässlichen Stühlen ohne Rückenlehne und einer Truhe, die auch als Sitz, Bett und Aufbewahrungsplatz diente. Ich nehme an, dass wir Betten hatten, aber sicher nicht eins für jeden. In jenen Tagen war es üblich, dass sich Kinder die Betten teilten. Ich glaube, wir hatten auch einen großen Schrank.
Drei der vier Stühle hatten normale Größe; einer jedoch war viel kleiner, und so nannte ich ihn "meinen Stuhl". Ich benutzte ihn nicht nur, um darauf zu sitzen. Ich sprach mit ihm, tanzte mit ihm, küsste ihn, umarmte ihn und verbrachte viele glücklichen Stunden in seiner Gesellschaft. Ich besaß keine Spielsachen, aber G-tt sei Dank war ich mit Vorstellungskraft gesegnet und einem fröhlichen Gemüt, und ich erinnere mich nicht daran, unter Langeweile gelitten zu haben, trotz des Mangels an Dingen, die der Unterhaltung dienten.
Unser Lebensstandard lag deutlich unter der Armutsgrenze. Im soyetischen Russland damals war es unmöglich, ein genügendes Einkommen zu verdienen und gleichzeitig ein gesetzestreuer Bürger zu sein. Die amtlichen Löhne für die meisten Arbeitsplätze lagen merklich niedriger, als für den Lebensunterhalt notwendig war. So musste man das Gesetz ein bisschen beugen, um nebenher genug zu verdienen, um zu überleben. Falls man jedoch dabei, G-tt behüte, ertappt wurde, waren die Folgen schlimm. Die Leute, die andere dabei schnappten, waren natürlich noch korrupter. Es war damals eine durch und durch korrupte Gesellschaft, und Betrügereien gehörten zum Leben.
Das war eine sehr schwierige Lage für Menschen, die ehrlich und wahrhaftig sein wollten. Obwohl die genannten Umstände schon schwierig genug waren, war das Leben für einen religiösen Juden selbstverständlich noch sehr viel schwieriger, da als zusätzliches Problem die Einhaltung3 von Schabbat und Jom Tow (Feiertagen) dazu kam.
Es gab ein System, dass Fabriken Heimarbeit verteilten und jede Woche musste eine bestimmte Menge an Arbeit geleistet werden, ohne dass der Abgabetag zu berücksichtigen war. Dieses System war für religiöse Juden gut, weil es bedeutete, dass sie nicht am Schabbat arbeiten mussten. Die Bezahlung war natürlich sehr schlecht und es gab diese Arbeit auch nicht immer.
Unser Vater arbeitete zumindest eine gewisse Zeit nach diesem System. Es gab damals eine bestimmte Strickmaschine, die für alle möglichen Arten von Strickwaren benutzt wurde. Eine solche Maschine stand bei uns und unser Vater brachte Arbeit nach Hause, wenn er welche fand. Seine Hauptarbeit war als Mechaniker. Er spezialisierte sich auf die Reparatur und die Instandhaltung solcher Strickmaschinen. Obwohl er seine Arbeit gut machte, war der Lohn, den er verdiente, kaum genug, um uns einen halben Monat durchzufüttern. Er weigerte sich rundheraus, irgendetwas Illegales zu tun, um Extrageld nach Hause zu bringen, wie es fast alle anderen sonst taten. Er war ein absolut ehrlicher Mensch, der nie irgendwie betrog, noch nicht einmal die korrupte Regierung.
Als kleines Mädchen, erinnert sich Riva, wie sie nachdenklich Vater beobachtet, wie er an seiner Maschine arbeitete und das Tuch immer größer wurde. Dieser Anblick beunruhigte sie sehr. Sie dachte, "Sicher ist G-tt überall und das bedeutet, dass Er auch in der Maschine ist und im Stoff, der unten aus ihr herauskommt. Was passiert da eigentlich? Ist es für nicht viel zu eng dort?" Sie traute sich jedoch nicht, irgendjemandem diese Frage zu stellen und behielt sie für sich.
Die Hauptsorge von Vater war, dass er dabei ertappt würde, irgendetwas gegen das Gesetz zu tun und dann, G-tt behüte, nach Sibirien geschickt würde. Er sorgte sich dabei nicht so sehr um sich selbst, sondern darüber, was mit dem Judentum seiner Kinder passieren würde, wenn er nicht mehr da war. Auf keinen Fall durfte er das Risiko eingehen, eine Situation heraufzubeschwören, welche die Erziehung seiner Kinder gefährdete. Also mussten wir uns mit einer Mahlzeit am Tag begnügen, die aus Schwarzbrot bestand, auf das dünn Butter oder Marmelade (nie beide zusammen) gestrichen wurde, und etwas süßem Tee bestand. Selbst für diese Form des Überlebens gab es nicht genug Geld. Vater musste Geld borgen, um bis zum Ende des Monats durchzukommen.
Meine Mutter hätte die Chance gehabt, zu Hause Hemden zu nähen, um unser winziges Einkommen aufzubessern. Die Arbeit war jedoch ungesetzlich, und deshalb erlaubte mein Vater sie ihr nicht, weil er sonst nach Sibirien hätte geschickt werden können. Vater drückte sich so aus, "Lass unsere Kinder nur Schwarzbrot und Wasser bekommen, aber sie sollten religiöse Juden sein." Meine Mutter war gezwungen zu antworten, "Aber wir haben ja noch nicht einmal Brot." "Außerdem", fuhr Mutter fort, "liegt das Risiko, erwischt zu werden, in diesem Fall allein bei mir und nicht bei dir. Falls, G-tt behüte, ich ertappt werden sollte, bleibst du weiter bei den Kindern und kümmerst dich um ihre jüdische Erziehung. Ich für meinen Teil riskiere lieber, eingesperrt zu werden, als meine Kinder, G-tt behüte, hungern zu sehen." An dieser Stelle gab Vater nach und Mutter brachte Näharbeiten nach Hause. Sie nähte viel und arbeitete hart, und unser Lebensstandard stieg an. Wir konnten nun zwei Mal am Tag essen anstatt nur ein Mal.
Ich erinnere mich an eine Gelegenheit, als ein kleineres rundes Schwarzbrot alles war, was es bei uns zu Essen gab. Das Brot wurde in vier Portionen geteilt und jedes Kind erhielt ein Stück. Unsere Eltern nahmen nichts. Ich bemerkte das damals und dachte flüchtig, wie gut sie waren, alles uns zu geben, und dachte dann nicht weiter darüber nach. Als ich älter wurde, beschämte mich die Erinnerung daran.
Das war alles noch vor dem Krieg.
Fußnoten
1.
Rebbe Yossef Yitzchok Schneerson (1880-1950), war der sechste Lubawitscher Rebbe und wird der Frierdike Rebbe genannt (Jiddisch für "der frühere Rebbe").
2.
Am Pessach-Fest ist es verboten, irgendetwas zu essen, was Brot oder Hefe enthält. In einer Gemeinschaftsküche, in der Brot verwendet wird, ist es unmöglich, sicher zu sein, dass nicht aus Versehen ein Krümel Brot mit der Pessach-Speise in Berührung kommt.
3.
Nach dem jüdischen Gesetz ist es verboten, am Schabbat und an den jüdischen Feiertagen zu arbeiten. Das führte zu einer unmöglichen Situation: Da alles dem Staat gehörte, musste jeder für den Staat arbeiten, und der Staat ordnete eine 6-Tage-Woche an, von Montag bis Samstag.
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