Eines Morgens wachte Riva auf und Jizchok bemerkte, dass ihre rechte Wange ziemlich geschwollen war. Später stellte Mutter fest, dass ihr rechter Arm und rechtes Bein ebenfalls geschwollen waren. Irgendetwas stimmte offensichtlich nicht. Mutter nahm Riva in die Klinik und dort vermuteten sie eine Nierenentzündung. Sie nahmen eine Hamprobe, um sie testen zu lassen und eine genauere Diagnose stellen zu können. Natürlich war Rivas Krankheit sehr beunruhigend und kummervoll, aber sie hatte auch eine nützliche Seite. Vater, der immer praktisch dachte, sah eine Möglichkeit, seine Kinder wenigstens während Pessach aus der Schule zu haben.

Das organisierte er so. Zuerst rief er einen Privatarzt in die Wohnung. Dieser vermutete ebenfalls Nierenentzündung, nahm eine Hamprobe und schickte sie ins Labor. Das Resultat war positiv, Nierenentzündung, und neben anderen Dingen wurde eine längere Zeit Bettruhe verordnet. Der Arzt schrieb ein Attest für Riva aus, dass sie wegen Krankheit nicht zur Schule kommen konnte.

Am nächsten Tag arrangierte Vater dass ein zweiter Privatarzt zur Visite kam. Er trug Riva auf, sich beim Arzt als Soroh vorzustellen. So stellte der zweite Arzt ein Attest für Schulabwesenheit auf Sorohs Namen aus.

Am dritten Tag kam ein dritter Arzt. Dieses Mal war es ein bisschen schwieriger. Nachdem der Arzt seine Patientin untersucht hatte, gab Vater ihm ein großzügiges Trinkgeld zu seiner Gebühr noch hinzu und flüsterte etwas in das Ohr des Arztes, woraufhin der Arzt, der ja deutlich sah, dass er eine Patientin untersucht hatte, das notwendige Attest auf Jizchoks Namen ausstellte.

Nun hatten alle drei Kinder im schulpflichtigen Alter Atteste, die sie für eine beträchtliche Zeit vom Unterricht freistellte. Das sorgte dafür, dass sie während Pessach und eine lange Zeit danach nicht in die Schule gehen mussten.

Und nicht nur das: noch zwei Mal wurden die Ärzte gerufen, damit Atteste für andere religiöse Kinder ausgestellt werden konnten.1

Pessach kam und ging und alle Kinder blieben dank der Atteste zuhause. Doch war dies keineswegs eine Zeit der Entspannung. Wenn Kinder eine längere Zeit nicht in der Schule waren, dann mussten die Lehrer oder sogar die Direktoren sie zuhause aufsuchen, oder jemanden damit beauftragen, um sicher zu stellen, dass alles stimmte. Ihr werdet bis jetzt mitbekommen haben, dass die Bildung im kommunistischen Russland sehr wichtig genommen und die Schüler genau überprüft wurden. Abwesenheit wurde nicht geduldet, und sogar kranke Kinder wurden überprüft. Deshalb musste unsere Wohnung so umgestellt werden, dass ein Besucher nicht merkte, was wirklich gespielt wurde. Um zu erklären, wie diese Situation von meinen Eltern gehandhabt wurde, füge ich einen Plan der Wohnung bei, der es hoffentlich möglich macht, die Einzelheiten ihres komplizierten, aber sehr durchdachten Systems zu erklären.

Wie zuvor erwähnt, hatten wir einen großen Raum und einen kleinen daneben. Beide Zimmer hatten ihre eigene Tür zum Flur hin. Der große Raum hatte noch eine Tür hinten, die zum Flur führte. In der Mitte dieses Zimmers stand ein großer Schrank, der den Raum zweiteilte. So sah unsere Wohnung fast wie eine Dreizimmer-Wohnung aus. In jedem dieser "Zimmer" gab es ein Bett für jedes der älteren Kinder. Seht euch den Plan gut an, bevor ihr weiter lest.



Beachtet nun Folgendes: Die Bewohner des Wohnhauses hatten nicht ihre eigenen Klingeln am Eingang des Gebäudes. Stattdessen achtete man auf die Anzahl der Klingelzeichen. Zu Familie "A gehörte 1 x Klingeln; zu Familie "B" 2 x, usf. Unser Zeichen war 3 x Klingeln. Jedes Mal, wenn die Glocke drei Mal klingelte, war der Besuch für uns. Wir konnten nicht wissen, wer zu uns wollte. Es hätte jemand von den drei Schulen der Kinder sein können, oder auch nur ein Irrtum. Jemand hätte die Klingel 1 x zu oft oder 1 x zu viel drücken können. Wir durften jedoch kein Risiko eingehen, weil so viel auf dem Spiel stand.

Stellt euch nun vor, dass jemand klingelt und alle drei Kinder angeblich krank zuhause im Bett liegen. Falls es jemand aus Rivas Schule war, gab es kein Problem. Sie lag leider tatsächlich im Bett im kleinen Zimmer, das seine eigene Tür besaß, so dass der Besucher die anderen beiden Kinder, die trotz ihres schulpflichtigen Alters zuhause waren, gar nicht sehen musste.

Falls aber jemand von Jizchok's oder von Soroh's Schule kam, und sie während der Schulstunden herumturnen sah, wäre das eine sehr gefährliche Situation gewesen, aus der wer weiß was hätte entstehen können, G-tt behüte. Die Lösung war also, dass jedes Mal, wenn die Klingel drei Mal schellte, Soroh und Jizchok auch ins Bett springen und so tun mussten, als ob sie krank wären. Die Betten der drei älteren Kinder waren so gestellt, dass man von dort aus nicht das andere Bett und dessen Patienten sehen konnte. Rivas Besucher wurde also durch die eigene Tür geleitet, und der große Raum besaß zwei Türen, so dass Besucher für Soroh und Jizchok ebenfalls durch jeweils andere Türen zum Bett geleitet wurden. Das Kind konnte angesehen werden, das Attest wurde vorgewiesen, der Beweis war erbracht, dass dieses Kind nicht zur Schule gehen konnte.

Könnt ihr euch die ungeheure Belastung vorstellen, bei jedem Klingeln ins Bett springen zu müssen? Außerdem konnten sie während dieser Zeit nie nach draußen gehen aus Angst, dass Nachbarn sie während der Schulzeiten sahen und sie denunzierten.

Als das Wetter wärmer wurde und der Frühling dem Sommer den Weg frei machte, wurde es absolute unerträglich, zuhause eingepfercht zu sein. Wir brauchten dringend eine Wohnung ohne Nachbarn und wir brauchten sie schnell. Ich will gar keine Einzelheiten davon berichten, wie schwierig es war, eine solche Wohnung zu finden; das damals herrschende System wäre zu kompliziert zu erklären. Um es kurz zu machen, nach vielen Bemühungen schaffte Vater es, eine zu bekommen.

Die Motzkin-Familie hatte erwachsene Kinder, demnach auch keine Schulprobleme mehr, und für sie war es kein Thema, unter Nachbarn zu leben. Unsere Wohnung mit zwei Zimmern war besser als ihre und geräumiger. Das war für sie ein großer Vorteil. Sie hatten eine Einzimmer-Wohnung ohne Nachbarn, was wir suchten. Wir tauschten also unsere Wohnungen zum gegenseitigen Nutzen.

Es stimmt, dass unsere "neue" Wohnung unserer alten in Vielem sehr nachstand. Sie war viel kleiner, feucht und in einem schlechten Zustand. Allerdings hatten wir keine Nachbarn mehr und mussten nicht zur Schule gehen. Ich habe nur gute Erinnerungen an unser "neues Heim". Oft denke ich, dass Haschem in meine Erinnerungen an "zuhause" eine besondere, feine rosa Farbe gemischt hat. An die schweren Zeiten erinnere ich mich nur schwach, und nur die guten Erfahrungen tauchen immer wieder auf und ich danke G-tt für dieses kostbare Geschenk. (Das betrifft natürlich nur meine Vorkriegserinnerungen.) Diese feuchte und hässliche Einzimmer-Wohnung war also unser neues Heim und ich liebte es einfach.

Wie berichtet, war der Grund für unseren Umzug, keine Nachbarn mehr zu haben, die den Behörden berichteten, dass wir nicht zur Schule gingen. Ich freute mich am Leben in der neuen Wohnung jedoch aus einem anderen Grund. Ich mochte unsere alten Nachbarn ganz allgemein nicht, aber besonders einen Teenager namens "Grisha" nicht. Er machte mir ständig Angst, indem er immer Gesichter schnitt, wenn sich unsere Wege kreuzten. Die Gemeinschafts-Toilette brachte es mit sich, dass wir uns häufiger begegneten. Ich hatte richtig Angst vor ihm.Er war der Schatten meines Lebens. In unserer neuen Wohnung gab es keinen Grisha und keine anderen unangenehmen Nachbarn. Ich war mit meinem Los zufrieden.

Eine weitere Attraktion in der neuen Wohnung war ein großer Gasherd anstelle des Paraffin-Kochers in der alten. Ich dachte damals, dass ein Gasherd die Spitze der modernen Entwicklung wäre. Von einer hübschen kleinen Geschichte in Bezug auf den Gasherd möchte ich erzählen.

An einem Freitag Nachmittag, hatte meine Mutter den Teig für die Challot gemacht, und als er genügend aufgegangen war und sie bereit war, das Backen zu beginnen, wurde das Gas plötzlich abgestellt und nicht bis kurz vor dem Zeitpunkt, die Kerzen anzuzünden, wieder angestellt. Meine Mutter musste schnell überlegen. Es war nicht mehr Zeit genug, um die Challot auf die herkömmliche Weise zu backen; sie musste etwas Schnelleres finden. Sie füllte einen Saucentopf zur Hälfte mit Öl (das war damals günstig und reichlich vorhanden), schnitt den Teig in Stücke und frittierte sie, wie man es mit Donuts macht.

Ich erinnere mich nicht, was der Rest der Familie dachte, als wir "Donuts" anstatt von Challot zum Schabbat hatten, aber ich war hocherfreut. Für mich war das wirklich ein Genuss. Und nicht nur das: was ich doch für eine kluge Mami hatte! Weil es etwas nicht gab, hatte sie es fertig gebracht, sogar etwas Besseres als geplant zu produzieren. Das Leben war für mich voller kleiner Freunde, scheint es.

Vater mochte eins in der neuen Wohnung gar nicht, und das war das Radio. Es war in der Wand verkabelt und deshalb durfte er es nicht entfernen, weil es sich um Staatseigentum handelte. Er war sehr versucht, das zu tun, und rief aus, "Wenn ich es doch nur mit allen Wurzeln heraus reißen könnte!"

Für ihn stellte dieses Radio eine Weltlichkeit dar, die kein Recht hatte, in unserem jüdischen, chassidischen Heim zu sein, und er lehnte dessen unwillkommene Gegenwart völlig ab.