Ich möchte euch von unserer Ausbildung erzählen. In der freien Welt von heute, in der Welt meiner Enkel, gehen Kinder erst in den Kindergarten, dann in die Schule und dann in die weiterführende Schule oder die Jeschiwa, wie der Fall gerade liegt. Alle religiösen Institutionen bieten, G-tt sei Dank, eine gute Jüdische Ausbildung an. Im sowjetischen Russland musste die Jüdische Ausbildung jedoch zu Hause oder bei Freunden durchgeführt werden, und zwar völlig im Geheimen, da das Studium der Tora in Russland verboten war.

Mein Bruder Jizchok lernte zu Hause bei jemandem, der zu uns kam, um ihn zu lehren, oder er ging in die Wohnung von jemandem. Wir, die Mädchen, lernten zu Hause mit Vater. Wir lernten schon in sehr jungen Jahren aus einem Siddur (einem Gebetbuch) zu lesen. Riva erinnert sich, das Aleph Bet aus dem Tanja1 gelernt zu haben.

Einmal gab es zu Chanukah ein Familientreffen in der Wohnung von Eisik Karasik2. Alle Cousins und Cousinen aus Leningrad kamen. Lipa Schapiro3 unterhielt sich mit der kleinen Riva, "Wie geht es dir?" fragte er. "Was für ein großes Mädchen du bist! Hast du schon etwas gelernt?" fuhr er fort.

"Ja", antwortete sie sogleich.

"Was? Was lernst du?" fragte er wieder?

"Ich lerne Tanja", sagte sie ganz unschuldig. Die Verwandten blickten sich untereinander an. Einer murmelte, "Bei Onkel Jeschaja würde mich das nicht überraschen!"

Riva konnte nicht verstehen, warum sie so überrascht waren. Als sie nach Hause kam, fragte sie Jizchok, der mit einem Lachausbruch antwortete, "Du lernst nicht Tanja, du lernst nur das Aleph Bet.4"

Vor einigen Jahren erzählte mir jemand, dass Riva als kleines Mädchen einmal humorvoll gefragt wurde, "Bist du ein Mädchen oder ein Junge?" "Weder noch," war ihre Antwort, "Ich bin Atzilus.5" Nun, wenn ein Mädchen ihre Ausbildung von klein auf aus einer Tanja erhält, dann ist es vielleicht nicht überraschend, dass das Wort Atzilus Teil ihres Vokabulars ist.

So bald wir Kinder etwas lesen konnten, begannen wir damit, Morgengebete aus einem Siddur (Gebetbuch) zu lesen; zunächst keine Teile und später, als wir besser lesen konnten, mehr und mehr.

Wie zuvor erwähnt, betete Vater mehrere Stunden täglich und mit echter Konzentration. Die Weisen haben den Siddur so arrangiert, dass unsere Gebete wie eine Leiter sind. Jeder Teil eines Gebets ist wie ein Sprungbrett, das uns auf die nächsthöhere Ebene erhebt. Schließlich gelangen wir zum Amidah (dem stillen Gebet), der höchsten Form unserer Gebete. Wenn wir den Amidah sprechen, stehen wir vor G-tt6 und sprechen direkt mit ihm.

Als Vater den Amidah zu sprechen hatte, bestand er darauf, dass auch wir Kinder die gesamte Zeit hindurch stehen mussten, gleich, wie lange der Amidah dauerte. Die Kinder waren vielleicht zu jung, um selbst zu beten, aber nicht zu jung, um auf die Gegenwart G-ttes während des Amidah aufmerksam gemacht zu werden und das zu bezeugen, indem auch sie standen.

Sobald den Kindern das Lesen gut genug gelang, lasen sie jeden Tag den täglichen Tehillim7 (Psalm).

Am Schabbat und Jom Tow bei Tisch, erzählte uns Vater Geschichten von Zaddikim (Gerechten), und wies danach darauf hin, welche Lektion wir von ihnen lernen konnten. Er wandte sich nacheinander an jedes Kind und sagte, "Wirst du dich daran erinnern und wie du dich in einer ähnlichen Lage verhältst?"

Persönlich erinnere ich mich nur vage an die Geschichten von den Zaddikim, die mein Vater erzählte. Deshalb mochte ich sie vielleicht besonders und erzählte selbst Geschichten der Zaddikim, immer wenn möglich, meinen Kindern und Enkeln in England, als sie kleiner waren.

Ich erinnere mich an die besondere Schabbat-Atmosphäre bei Tisch, die mich viele Jahre hindurch auf mehrfache Weise beeinflusst hat8.

An einem Schabbat Nachmittag, als Riva sehr klein war, stand sie auf der Straße und beobachtete, wie die Welt an ihr vorbeizog. Ein kleines Mädchen lud sie dazu ein, mit ihr Ball zu spielen. Riva stimmte ohne zu zögern gleich zu, hörte aber bald die Stimme ihres Vaters, die sie nach Hause rief. Sie kam und musste sich einen ernsten Vorwurf anhören, "Weißt du nicht, dass du am Schabbat nichts tragen darfst?

"Doch, erwiderte Riva, "aber ich habe nichts getragen, ich habe nur mit dem Ball gespielt."

"Das ist das gleiche", beharrte Vater, "Ball spielen bedeutet, etwas zu tragen."

"Das wusste ich nicht", verteidigte sich das kleine Mädchen.

"Wenn du etwas nicht weißt, so frage", antwortete Vater.

Bei einer anderen Gelegenheit waren wir in der Hochsommerhitze im Park. Die zwei älteren Mädchen trugen lange Ärmel und ziemlich dicke Strümpfe (es gab damals keine dünnen). Ich war noch unter drei Jahren alt und durfte deshalb kurze Socken tragen. Riva war darauf ein bisschen neidisch, und litt so unter der Hitze, dass sie ihre Strümpfe bis zu den Knöcheln herunterrollte, so dass sie wie Socken aussahen. Bald darauf kam Vater, um uns abzuholen und ertappte sie. Er war sehr ungehalten. Auf dem ganzen Heimweg sprach er mit Riva ausführlich über das Thema.

"Wie konntest du, meine Tochter, so etwas tun? Wie oft habe ich dir gesagt, dass ein jiddisches Mädchen nicht die nicht-jüdischen Mädchen und ihre Art der Kleidung nachmachen darf. Das Leben eines Juden ist so anders! Haschem (G-tt) hat uns so viele Mizwot (Geboten) aufgetragen! Wie sollte also ein jüdisches Mädchen je den anderen ähneln dürfen? Ein jüdisches Mädchen hat Mizwot, also muss sie anders aussehen."

Die Worte Vaters waren voller Schmerz und sie drangen tief in ihre Neschomo (Seele) ein. Sie spürte groge Reue und tat das nie wieder. Viele Jahre später kümmerte sie sich darum, dass auch ihre eigenen Töchter vom dritten Lebensjahr an ihre Beine bedeckten, in Übereinstimmung mit dem Schulchan Aruch (dem kodifizierten jüdischen Gesetz).

Ich sehnte mich nach Puppen zum Spielen. Manchmal, wenn wir in den Park gingen, sah ich den kleinen Mädchen zu, die Puppen hatten, und war von Staunen erfüllt. Welche Freude musste es sein, eine solche richtige, schöne Puppe zu haben! Ich glaube, dass ich akzeptierte, dass für mich eine solche Freude unerreichbar war, und ich verlor keine schlaflosen Nächte darüber. Außerdem hatte ich Ersatz. Riva konnte ausgezeichnet nähen und schneidern, und sie experimentierte damit, kleine, weiche Puppen für mich zu machen. Um die Arme und Beine wirklichkeitsgetreuer zu machen, steckte sie kleine Hölzer hinein, was auch klappte, die Arme jedoch sehr steif aussehen ließ und sie unnachgiebig machte. Bei der nächsten Puppe brach sie deshalb das Hölzchen in der Mitte, so dass eine Art Ellenbogen entstehen konnte. Ich fand, das war eine glänzende Idee. Es war zwar nicht so, als ob man richtige Puppen hätte, aber es waren dennoch Puppen, und jeder bewunderte ihre Geschicklichkeit.

Um zu meinem Vater zurückzukehren: Wenn man manche Begebenheiten über seine kompromisslose Haltung liest, kann man den Eindruck eines sehr strengen und vielleicht sogar harten Mannes gewinnen. Das war jedoch nicht der Fall. Er war nur unnachgiebig in Bezug auf Jiddischkeit (Judentum). Die Einhaltung von Mizvots (Geboten) musste genauestens befolgt werden, denn die Mizvots sind die Gebote des Königs. Er war aber auch ein über die Maßen treu sorgender Vater, der seiner Familie vollkommen hingegeben war. Nein, das drücke ich nicht richtig aus. Da er ein solch treu sorgender Vater war, des- halb erwartete er von seiner Familie einen solchen hohen Standard von Yiras shomayim (G-ttesfurcht).

Ich möchte noch eine andere kleine Geschichte erzählen, welche die tiefe Liebe zeigte, die er für seine Kinder hatte. Zunächst möchte ich euch damit bekannt machen, wie wir in unserem Heim mit dem Problem von Schatness (das Verbot, ein Gemisch aus Wolle und Leinen zu tragen) umgingen.

Die russischen Winter waren sehr streng. Um die Füße warm zu halten, trug jeder "Valinkes", eine Art von Filzstiefeln. Der Filz wurde aus allen möglichen Wollresten hergestellt. Mein Vater spürte einen starken Verdacht von Shatness, da leicht andere Stoffreste, einschließlich von Leinen, mit hinein gemischt worden sein könnten, also war es uns nicht erlaubt, diese Filzstiefel zu tragen9.

Pullover, Strümpfe, Schals und dergleichen konnte man ziemlich leicht zu Hause untersuchen, aber bei Mänteln war das schwieriger und sie bedurften einer sachkundigen Aufmerksamkeit. Wenn ein Mantel also nicht von einem zuverlässigen Schneider oder unter Aufsicht gefertigt worden war, konnten wir ihn nicht tragen. Stattdessen konnte man Baumwollmäntel tragen, die mit Baumwolle ausgefüttert waren. Riva hatte einen solchen Mantel. Leider war er so alt und abgetragen, dass man ihn nicht mehr flicken konnte. Er sah ziemlich grausig aus, weil die Baumwolle an allen Ecken hervorquoll. Einmal erhaschte sie einen Blick ihrer selbst im Spiegel einer Schaufensterscheibe und war schockiert. Sie rannte nach Hause, zog das abschreckende Kleidungsstück aus und warf es auf den Boden.

"Ich werde dieses Ding nie wieder tragen!" erklärte sie, und sie tat es auch nicht. Ab da hatte sie keinen Mantel mehr anzuziehen, wenn sie hinausging. Soroh hatte einen recht schönen Mantel, der aus Mutters alter Jacke gemacht worden war. Riva wünschte sich diesen Mantel, er gehörte jedoch Soroh, also trug sie ihn nur, wenn Soroh nicht nach draußen gehen musste. Es gab unvermeidlich aber auch Zeiten, wenn beide gleichzeitig hinausgehen mussten. Einmal war das zur Bar Mizwa unseres Cousins. Riva hatte keinen Mantel anzuziehen. Sie weigerte sich, ihren alten Mantel zu tragen und die Atmosphäre zuhause wurde hitzig. Vater hatte eine Idee. Anstatt eines Mantels konnte Riva doch zwei dicke Pullover tragen. Riva lehnte ab, "Jeder wird über mich lachen, weil alle anderen Mäntel tragen."

Vater rettete die Situation wieder. "Schau, jeder weiß, dass es die Pflicht eines Vaters ist, sich um seine Familie zu kümmern und dafür zu sorgen, dass sein kleines Mädchen einen Mantel für den Winter hat. Ich," fuhr Vater fort, "werde die ganze Zeit, wenn wir dorthin gehen, deine Hand halten und das werden alle sehen und erkennen, dass ich dein Vater bin, und dass ich Schuld daran trage, dass du keinen Mantel hast. Dann werden alle über mich lachen und nicht über dich."Riva akzeptierte diese Darstellung und voller Freude machten sich alle auf den Weg zur Bar Mizwa10.

Vater versäumte keine Gelegenheit, uns etwas Wertvolles beizubringen, eine Lektion, an die man sich erinnerte. Eines Tages stand er am Fenster und deutete auf die Kinder, die er draußen sah, "Da ist ein netter jüdischer Junge, der zur Schule geht. Er geht zur Schule und ihr nicht. Vielleicht fragt ihr euch, "Warum?" Er geht in eine sowjetische Schule, die sowjetische Werte lehrt, die gegen die Jiddischkeit (Judentum) sind. Die Versuchungen und Fallgruben sind sehr zahlreich. Dieser kleine Junge, den wir durch das Fenster sehen, ist vielleicht stark genug, all dem zu widerstehen. Wenn man sich in solchen Situationen befindet, ist die Jezer Hara (die Neigung zum Bösen)11 rasch bereit, ein gutes und starkes Argument zu liefern, warum man dem Beispiel eines anderen Menschen folgen sollte, wie zum Beispiel diesem kleinen Jungen. Die Frage ist jedoch: Seid ihr stark genug zu widerstehen? Die Jezer Hara (die Neigung zum Bösen) wird euch überzeugen, dass ihr stark genug seid, nur um euch später einzufangen, G-tt behüte.