Etwas Seltsames ist geschehen, seit meiner Diagnose vor ein paar Monaten. Es scheint, dass G-ttes Stimme lauter geworden ist. Zu laut, manchmal. Immer unerwartet. Manchmal sogar aufdringlich.

Ich sitze da und trinke meinen Kaffee. Ich habe mir einige Minuten alleine in einem Café gegönnt um zu lesen und meine Anonymität zu geniessen. Plötzlich, wie angeschossen, taucht ein Gefühl in mir auf, das mich aufblicken lässt, nach innen und nach aussen, was ist der Grund?

Nichts.

Ich senke meinen Blick um weiterzulesen, da das Gefühl zu verschwinden scheint.

Dann kommt es ein zweites Mal, dieses Mal stärker, meine Augen fangen an zu brennen.

Was geht hier vor?

Noch einmal überfliege ich meine Umgebung, meine Gedanken, einen Satz im Buch, der vielleicht eine Erinnerung oder Assoziation hervorgerufen hat.

Ich sehe mich um, fürchte, dass jemand das Überlaufen der Tränen in meinen Augen sieht, dass der Kellner kommt und meinen Zustand bemerkt, meine psychische Gesundheit und mein Gleichgewicht in Frage stellt.

Noch einmal bemühe ich mich um Normalität, greife nach meinem Buch, wische, fast wütend, meine Tränen weg, wütend auf mich selbst, verwirrt und voller Angst.

Diese grundlose Gefühlsausbrüche sind unangebracht, ich weiss, doch sich dagegen aufzulehnen trägt nicht dazu bei sie zu entschärfen. Gegen ihr Beharren bin ich machtlos. Ich unterwerfe mich, bedecke mein Gesicht mit meinen Händen und lasse mein Herz anschwellen. Ich verberge die Tränen, die einzeln meine Wange hinuntertropfen, dankbar, dass ich nicht weine, sondern nur meine Gefühle überlaufen lasse; Gefühle die grösser sind als meine Möglichkeit, Platz für sie in meinem Herzen zu finden.

Ich finde Trost und Fokus im schwarzen Nebel hinter meinen Augen. Obwohl ich nicht in der Lage bin diese Erfahrung zu verhindern, fürchte ich nicht mehr, dass sie mich hilflos machen und meiner Selbstkontrolle berauben wird. Ich atme tief ein und spüre, wie mein Bewusstsein in mein Herz dringt, der Ursprung dieser Gefühle und der Tränen, die sie verursachen.

Während ich dies tue, spüre ich wie mein Körper von Empfindungen durchflutet wird, die ihn beleben und stärken. Ohne nachzudenken, nehme ich meine Hände von meinen Augen und blicke auf das Café, die Strasse, die Leute, und immer noch fühle ich die Feuchtigkeit in meinen Augen, das Anschwellen meines Herzens, die Empfindungen, die in meinem Körper pochen.

Die Schönheit und Einfachkeit überraschen mich. Nicht jede Sache für sich, sondern das Ganze, das zusammen ein abstraktes Mosaik zu bilden scheint.

Wiederum kehren meine Hände zu meinen Augen zurück, diesmal nicht um zu verbergen, sondern um einen Ort des Rückzugs von dieser Erregung zu schaffen, einen Ort der Ruhe und Privatsphäre, wo ich diese Gefühle aufnehmen und geniessen kann.

Und dann bilden meine Gedanken folgende Worte: Wenn du krank bist, wird G-ttes Stimme lauter.

Nicht nur laut, sondern auch aufdringlich, antworte ich. Und mit einem Schaudern versuche ich zu einer Befindlichkeit zurückzukehren, die zwar meiner Umgebung gerechter wird, aber dennoch zu zerbrechlich ist um aufzustehen und gehen zu können.

Wie immer zieht G-tt die Fäden.Seit ich krank geworden bin, habe ich viele ungewöhnliche Erfahrungen gemacht. Manchmal fühle ich eine ausserordentliche nähe zu G-tt, manchmal eine erschreckende Distanz. Alles, was ich tue, scheint die Beziehung wenig zu beeinflussen. Wie immer zieht G-tt die Fäden. Voller Überraschungen, scheint Er es zu geniessen, wenn Er mich unvorbereitet erwischt. Manchmal denke ich, dass er meinen Zustand ausnützt und mich ausgerechnet dann aufsucht, wenn ich ihn am wenigstens erwarte. Ist Er es, den ich lachen höre?

Aber könnte es denn irgendwie anders sein? Würde ich (oder irgendwer) ohne Sein Dazutun innehalten, um zu horchen? Würde die Logik und Selbstsicherheit meines Verstandes lange genug aussetzen um die Welt so zu betrachten zu können, wie sie ist, ungeachtet dessen, was ich vortäuschen oder erinnern möchte? Kann diese umwerfende Schönheit, mit Augen, die von Kindheit an gewohnt sind, die Teile nach einem bestimmten, sich wiederholenden Muster zusammensetzen, überhaupt noch wahrgenommen werden?

Wäre dieser Gefühlsausbruch gekommen, wenn ich meinen jungen Sohn ins Bett bringe, so wäre es angebracht gewesen. Aber solch eine Erfahrung, solch eine Liebe in einem Café, ohne Grund und ohne äusserliche Ursache, lässt mich, auch wenn nur flüchtig, die sinn- und grundlose Liebe spüren, mit der der Allmächtige, wie es scheint, das gesamte Universum füllt und umarmt, überall und jederzeit, total willkürlich, sicherlich mit einem Lächeln und vielleicht auch einem leisen Lachen, einem Lachen voller Liebe, das den Menschen, der es erleben darf, zum Weinen bringt.

Für mich ist dieses leise Lachen die Stimme G-ttes, die während meiner Krankheit lauter wird. Es ist das, was in den Ritzen, die meine Krankheit in der vermeintlichen Sicherheit meines Lebens entstehen liess, zum Vorschein tritt. Es ist die Überraschung, die aufkommt, wenn die ehemals mechanischen Teile sich in unerwarteter, erfrischender Weise neu gruppieren.

Die Stimme ist nicht eine Stimme, zumindest nicht nur eine Stimme. Sie ist vielmehr Empfindungen und Gefühle, Visionen und Träume, eine sich stetig verändernde Kaskade von vergänglicher Perspektive und Verständnis, und auch die einfache Schönheit eines Cafés, voll mit Menschen, an einer verkehrsreichen, lauten und staubigen Strasse. Eine Schönheit, die dich, wenn durch die Ritzen betrachtet, mit etwas heiligem Dazutun und einem verschmitzten Lachen gespickt, einfach aus den Socken haut.

Die Stimme G-ttes spricht während einer Krankheit lauter, weil dies vielleicht genau der Grund ist, warum es eine solche Krankheit in meinem Leben überhaupt gibt, warum sie überhaupt existiert, warum alle Ereignisse, die uns zu schockieren scheinen, geschehen und uns aufrütteln von der Arroganz und Selbstbezogenheit, mit der wir uns die Welt um uns herum nach unseren Bedürfnissen zurechtlegen.

Höre ich wirklich die Stimme G-ttes, wenn Empfindungen und Gefühle mich während den wenigen Momenten, in denen ich Entspannung in einem Café suche, übermannen? Oder ist es nur die Übertreibung und Dramatisierung eines Menschen, dessen Krankheit ihn um sein Gleichgewicht beraubt und emotionale Ausbrüche zu den ungewöhnlichsten Zeiten verursacht?

Ist dies wirklich wesentlich? Interpretieren wir nicht alle andauernd unsere Existenz und unsere Erfahrungen und versuchen ihnen, so gut wir können, Bedeutung zu verleihen? Würdest du einem Kranken die Möglichkeit vorenthalten, zu glauben, dass er G-tt begegnet? Ist es wirklich so daneben, das Klopfen meines Herzens auf die Liebe, mit der G-tt die Welt füllt, zurückzuführen?

Ich habe wirklich nur etwas auszusetzen.

Ich wünsche mir, dass Er mich zumindest eine Tasse Kaffee in Ruhe trinken liesse. Es ist etwas peinlich da zu sitzen, das Universum liebend, Tränen in den Augen, und so zu tun als ob man ein normaler Mensch ist, der eine Tasse Kaffee trinkt.