Die Haftara im Morgengebet von Jom Kippur ist aus Jesaja, Kap. 57 und 58. Der Prophet sagt dort (58, 7): "Dem Hungrigen brich dein Brot; bedrängte Arme bring in dein Haus; siehst du einen Nacken, so kleide ihn ..."

Unser Sanhedrin (der höchste jüdische Gerichtshof in alten Zeiten) setzte sich zusammen aus Männern von gewaltiger Gelehrsamkeit, die ihr Amt aufgrund einer Tradition bekleideten, die auf Moses zurückging; dennoch unternahmen sie "lange Reisen", ihre "Lenden mit eisernen Ketten gegürtet", eben um "die Nackten zu kleiden" – um einen Juden, der in Bezug auf Tora und Mizwot "nackt" war, mit Tallit, Zizit und Tefillin zu kleiden und ihn die Tora zu lehren.

Heute sind solche beschwerlichen Reisen nicht nötig, noch braucht man seine Lenden mit eisernen Ketten zu gürten. Wir haben Telefone, Internet, Autos, Sekretärinnen für unsere Korrespondenz; und so lassen sich diese Aufgaben leicht erfüllen. Von uns heute wird nur eines erwartet: Dass wir unsere Herzen darauf lenken. Tragische Fälle von Abtrünnigkeit haben wir fast täglich vor Augen. Mit allen Kräften müssen wir zu vermeiden suchen, dass sich diese Abfalls-Tendenz weiter verbreitet – und gleichfalls müssen wir uns um diejenigen bemühen, die wir bereits verloren haben.

Unsere Jugend ist freimütig, anspruchsvoll, beharrlich, unzufrieden mit dem, was in ihrem Elternhaus vorgeht. Sie nimmt sich kein Blatt vor den Mund; sie klagt an: Die Eltern führen ein oberflächliches Leben, inhaltslos, ohne Ideale, für die man sich begeistern und zu Felde ziehen könnte. "Nun sagt uns schon endlich", so rufen unsere jungen Menschen aus, "wie ihr euch ändern werdet, und dann können wir vielleicht mitmachen. Andernfalls wundert euch nicht, wenn wir unsere eigenen Wege gehen, um Zweck und Inhalt für unser Leben zu suchen."

Und so machen sich, in der Tat, viele Jugendliche auf die Suche, halten Ausschau nach Methoden und nach Idealen; und deren gibt es viele, alle fordern treue Gefolgschaft, und alle behaupten, die letzte Wahrheit gepachtet zu haben. Es erübrigt sich hier, im einzelnen darzulegen, wie manche dieser Wege zu schrecklichem Unheil führen; und doch sind ihnen junge Menschen massenhaft gefolgt, weil man ihnen den richtigen Pfad nicht gewiesen hat. Denn was ist ihnen schon an Jüdischkeit gezeigt worden? Kompromisse! Jeder Kompromiss aber tut der Wahrheit Abbruch; und wie so der Kompromiss – zuerst "leise" – von der Wahrheit abweicht, wird aus ihm bald eine "Mischung" von Wahrheit und Lüge.

Demgegenüber hält man uns vor: "Ja, aber wenn wir unseren Jugendlichen mit strengen Worten kommen, dann laufen sie uns gleich davon; sie sind nicht gewillt, sich Vorhaltungen über jüdische Disziplin oder gar über feste Normen anzuhören." – Dieses Argument stimmt in den seltensten Fällen. Die heutige Jugend ist von anderem Kaliber und Temperament. Nur zu begierig warten sie auf jemanden, der Ansprüche an sie stellt, die ihrer Energie und ihrem Mute Genüge tun. Die Tora, der gesundende Lebensweg des Juden, ihre Forderungen, ihre Begriffe von Sittlichkeit und Entschlossenheit, ihr großes System zwischenmenschlicher Beziehungen: das ist eine annehmbare Herausforderung an den hingebungsvollsten Idealisten!

So ist die Botschaft an Eltern und Lehrer diese: Präsentiert die Tora nicht als eine Nachahmung irgendeiner fremden Lebensweise, noch, als würde mit ihr jemandem ein Gefallen getan, sondern so: "Als ein Jude wirst du dich selbst in der Tora wiederfinden." Wenn so etwas ernstlich und von Herzen gesagt wird, dann darf man eine positive Reaktion erwarten. Manchmal wird die Aufforderung sofort akzeptiert, und eine Änderung von Grund auf tritt ein. In anderen Fällen wird zumindest ein Saatkorn eingepflanzt, ein Wort wird gehört, ein Gedanke dringt ein. Durch Geduld und Ausdauer haben wir gar nichts zu verlieren.

Absolute Vorbedingung ist: Sprich die Wahrheit; und solltest du die Wahrheit nicht wissen, so gib dies offen zu, damit der junge Mensch anderswo nachfragen kann. Aber: Verdrehe Jüdischkeit nicht in der Weise, dass du einen Teil der Tora als ihre "Gesamtheit" anbietest. Jede Täuschung wird ein junger Mensch schließlich durchschauen, und dann wird er bitter. Einmal mit einer Unwahrheit abgespeist, wird er jedes Vertrauen in denjenigen verlieren, der ihn angelogen hat; und dann will er nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das Vertrauen der Jugend ist viel zu kostbar, als dass es so aufs Spiel gesetzt werden dürfte.