Der Maggid (Lehrer) von Kosniz pflegte zu sagen: „Warum sollte jemand an Jom Kippur essen wollen?“ Dieser spirituelle Mann spürte die Heiligkeit von Jom Kippur so deutlich, dass Essen für ihn nicht in Frage kam. Er erhob sich über die weltliche Ebene und ging ganz im Spirituellen auf.

Natürlich übersteigt das unsere Erfahrungen ein wenig. Dennoch können wir es verstehen. Denn wir alle haben von Mathematikern und Wissenschaftlern gehört, die so in ihre Arbeit versanken, dass sie weder aßen noch schliefen.

Und Jom Kippur ist sogar noch inspirierender als ein wissenschaftliches oder mathematisches Problem, denn es ist der heiligste Tag des Jahres. An diesem Tag ging der Hohepriester ins Allerheiligste des Beit Hamikdasch (des heiligen Tempels) und war unmittelbar mit G–tt verbunden. Nichts anderes war dort außer ihm und die offenbarte Gegenwart G–ttes.

Im Mikrokosmos erlebt jeder Jude an Jom Kippur diese Verbindung. Dies ist der Kern der Ne'ila, unseres letzten Gebetes an Jom Kippur. Ne'ila bedeutet „eingeschlossen“. Während der Ne'ila ist jeder Jude „eingeschlossen“, allein mit G–tt. Jeder hat Gelegenheit, mit G–tt zusammen zu sein. Spüren wir das bewusst? Natürlich wissen wir nicht, was im Herzen jedes Einzelnen vorgeht; aber an diesem Tag spürt jeder Jude eine gewisse spirituelle Inspiration. Er ist G–tt näher und wird sich seiner jüdischen Wurzeln stärker bewusst.

Entscheidend dafür ist der Zeitpunkt. So wie es natürliche Plätze gibt, die wir schön finden und die uns ehrfürchtig machen, ist Jom Kippur ein Tag, der für die spirituelle Inspiration geschaffen wurde. Im Kern unseres Wesens, jenseits des Ichs, das uns die gewöhnlichen Erfahrungen des Tages vermittelt, besitzen wir alle eine Seele, einen „wahren Teil G–ttes“. Und Jom Kippur sorgt kraft seiner Natur dafür, dass dieser spirituelle Kern enthüllt wird, so dass wir ihn bewusst wahrnehmen können.

Darum sprechen wir Beichtgebete an Jom Kippur. Es ist wie bei einem Paar, das sich versöhnen will. Wenn die beiden Distanz und Trennung erfahren haben und dann wieder zusammenfinden, schauen sie sich an und sagen: „Es tut mir Leid!“ Das hat nichts mit Selbstvorwürfen zu tun; es ist eine natürliche Reaktion, wenn wir jemandem wehgetan haben, den wir lieben. Und das Paar verspricht, sich zu ändern, die alten Fehler abzulegen und einander glücklich zu machen.

Darum geht es bei unseren Gebeten an Jom Kippur. Wir kommen G–tt näher, bedauern es, ihm Leid zugefügt zu haben, und versprechen, uns im nächsten Jahr zu bessern. Denn Jom Kippur soll kein isoliertes spirituelle Ereignis sein. Das Fest ist zwar einzigartig, was seine Heiligkeit anbelangt, aber sein erhebender Einfluss soll uns veranlassen, im neuen Jahr unser Verhalten zu ändern. An Jom Kippur müssen wir auch an die Zukunft denken. Wir müssen überlegen, wie wir die spirituellen Gefühle dieses Tages nutzen können, um im kommenden Jahr besser und erfüllter zu leben.